Der Mann in Gelb ist allein unterwegs. Es ist der vorletzte Abschnitt der Tour de France. Bisher war die Strecke strapaziös – mal flach wie ein Stullenbrett, dann wieder schmal wie die Taille einer schönen Frau, mit Kopfstein gepflastert, auf brüchigem Asphalt, durch Kreisverkehre und immer wieder über Berge. Einer noch will bezwungen sein. Es geht zum Alpe d’Huez. Auf schmalen Pfaden klettern die Radrennfahrer zur 1860 Meter hohen Skistation in den französischen Alpen. Die Etappe der Leiden wird auch dadurch zur Tortur, dass Zuschauer von rechts und links schreiend, gestikulierend, Fahnen schwenkend die Gasse zum Nadelöhr werden lassen. Oft peitscht kalter Regen, manchmal nasser Schnee ins Gesicht der Männer auf den leichten Rennmaschinen. Wenigstens das bleibt unserem Mann erspart. Er ist mit sich allein. Und der singenden Helene Fischer aus dem CD-Player. Das Wetter ist ihm schnuppe. Die Menschen an der Strecke? Sollen sie doch brüllen und toben. Der Mann im gelben Trikot ist ganz bei sich. Jetzt muss er in die kleinen Gänge schalten. Wieder eine Spitzkehre. Was wird wohl dahinter kommen?
Zielankunft in Paris erst dann, wenn es draußen regnet
Nichts. Jedenfalls heute. Wolfgang Kraushaar wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. Exakt 70 Kilometer ist er den Berg hinauf geastet. Jetzt ist Pumpe. Morgen geht’s weiter. Vielleicht auch erst ein paar Tage später. Das Wetter ist in diesem Juli einfach zu schön. Da dreht der 72-Jährige seine Runden lieber in der freien Natur. Die Tour de France läuft ihm nicht weg. Den Berg erklimmt er scheibchenweise. Und für die Zielankunft in Paris sucht er sich zwei Regentage aus.
Bei den Kraushaars in Rüdow bei Kyritz paaren sich radfahrerisches Können und Ehrgeiz mit modernster Technik. Das Rennrad, auf dem der Athlet strampelt, läuft hinten auf einer Rolle. Das Vorderrad lehnt ausgebaut an einem der Fitnessgeräte. Stattdessen führt ein Kabel zu einem Computer, in dem ein ausgeklügeltes Programm jeden Meter des mehr als 3000 Kilometer langen, wichtigsten Radrennens der Welt 1:1 mitfahren lässt. Dazu ist auf einem großen Monitor das Straßenprofil zu sehen, auf dem sich der „Fernfahrer“ gerade befindet. Wolfgang Kraushaar hat so schon zweimal komplett die Tour de France absolviert.
Zur Schule ging es mit einem alten Damenrad
„Radfahren ist mein Leben.“ Mit diesen Worten bringt er auf den Punkt, was ihn antreibt. Nie stehen bleiben, nie aufgeben, fallen ja, aber immer wieder aufstehen – mit diesen Maximen ist Kraushaar immer gut gefahren, beruflich als Rundfunk- und Fernsehmechaniker und späterer Geschäftsinhaber ebenso wie privat. Angefangen hat alles dort, wo heute drei Kraushaar-Generationen unter einem Dach leben: auf dem ehemaligen Mühlengrundstück im Kyritzer Ortsteil. Zur Schule ging es mit einem alten Damenrad in der Clique. Jeder wollte der Schnellste sein. Hinter der kleinen Brücke in Rüdow bauten sich die Jungs eine Crossbahn. Mit neun ging Wolfgang zu „Einheit Kyritz“. Die Stadt war in den 50er Jahren komplett radsportverrückt. „Wir haben bei Profis trainiert. Von Rudolf Kotsch, der schon in den Zwanzigern viele bedeutende Langstreckenrennen gewonnen hatte, bekam ich mein erstes Rennrad geschenkt. Er war unser Idol, genau wie Emil Lenz, noch ein Berufsfahrer der alten Schule.“
Und dann kamen ja die Pedaleure der Gegenwart hinzu. In der Zeit, als Wolfgang Kraushaar, sein Bruder Gerd, Karl-Heinz „Heini“ Müller, Manfred Streege, Willi Conrad, Gerd Lehmann und andere die Leidenschaft gepackt hatte, begann gerade der Stern eines der ganz Großen des Radsports aufzugehen. Täve Schur verzückte alle. Eigentlich hieß er ja Gustav-Adolf, so rief ihn aber keiner. Täve führte die ersten erfolgreichen Mannschaften in der legendären Friedensfahrt an, deren wichtigste Etappenorte Warschau, Berlin und Prag hießen. Der Verlauf der einzelnen Etappen, zuerst 12, dann 15 oder 16, wurde mit riesigen Lautsprechern auf Straßen und Marktplätzen übertragen. Wenn die Friedensfahrt-Fanfare erklang, bildeten sich große Menschentrauben, um der Stimme des Reporters zu lauschen. Täve Schur begeisterte alle. Der Mann aus Heyrothsberge in Sachsen-Anhalt wurde 1958 und 1959 Weltmeister. Auch der Hattrick wäre ihm geglückt, doch ließ er im Finale Bernhard Eckstein davonfahren und begnügte sich mit Platz 2. „Die Popularität von Täve war riesengroß. Plötzlich wollten viele wie er sein. Fast jedes Wochenende gab es irgendwo Radrennen. Dabei kamen zu uns in Kyritz manchmal mehr Zuschauer als zu den Fußballern. Und die hatten damals was drauf“, erinnert sich Wolfgang Kraushaar.
Wohnmobilfahrt zur Tour de France als Geburtstagsgeschenk
Er fuhr auch in der Männerklasse Rennen, ließ sich Anfang der 70er Jahre zum Übungsleiter ausbilden und betreute etliche Jahre den Nachwuchs, der damals zu Dynamo, dem Polizeisportverein der DDR, gehörte. Kyritz entwickelte sich zum Leuchtturm beim Training mit den Meistern von Morgen. Irgendwann kamen junge Sportler aus anderen Bezirken zu den immer wiederkehrenden Überprüfungen in die Knatterstadt. Ein schmächtiger Rostocker sollte neben solchen Talenten wie Burkhard und Uwe Freese viel später gewaltige Schlagzeilen machen: Jan Ullrich.
Ob sich Ullrich heute noch regelmäßig in den Sattel schwingt? Keine Ahnung. Bei Wolfgang Kraushaar geht es nicht ohne. 50, 70, 80 Kilometer dürfen es dann am Stück schon sein. Nicht selten hat er Sohn Thomas sowie die Enkel Franz, Judith und Mareike an seiner Seite. Sie bedienen sich aus einem Fundus, der mittlerweile aus sieben Rennmaschinen besteht. Als Wolfgang Kraushaar 70 wurde, überraschte ihn die Familie mit einem besonderen Geschenk: Die einwöchige Wohnmobilfahrt zur Tour de France bleibt dem Senior unvergessen. Und wo ging es hin? Zum Alpe d’Huez. Thomas und Franz begleiteten ihn. „Ich bin den Berg einmal komplett hochgefahren, in einem Stück, versteht sich, nicht scheibchenweise wie in meinem Studio. Dafür gab es oben das gelbe Trikot.“
Von Wolfgang Hörmann