Terror und Angst, Fanatismus und Alternativlosigkeit – der Militärhistoriker Harald Fritz Potempa sucht nach einer Erklärung für das schier Unerklärliche. Warum nur leisteten die Deutschen noch im Frühjahr 1945, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, so erbittert Widerstand? „In den militärischen Führungsebenen dürfte jedem klar gewesen sein, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war“, sagt Potempa. Der Oberstleutnant arbeitet am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
April 1945. Unablässig rückt die Front von Osten her vor auf jenen Ort, von dem der Krieg seinen Ausgang nahm: Berlin. Die Schlacht um die Reichshauptstadt beginnt am 16. April mit der verlustträchtigen, aber erfolgreichen Offensive der Roten Armee bei den Seelower Höhen. Zwei Wochen nachdem die Sowjets die Oder überschritten und die deutsche Ostfront in sich zusammenfiel, begeht Adolf Hitler im Führerbunker unweit der Reichskanzlei an der Berliner Voßstraße Selbstmord.
Der Tod des Diktators tat dem Widerstandswillen ebenso wenig Abbruch wie die Tatsache, dass für den Endkampf das letzte Aufgebot herhalten musste – der Volkssturm, kaum militärisch ausgebildet und miserabel ausgerüstet, Männer zwischen 16 und 60, später auch Hitlerjungen um die 14. Kanonenfutter, verheizt für eine wahnwitzige Idee. Hitlers Nachlass war ein Befehl, der den Krieg um Wochen verlängerte: Berlin „bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone“ zu verteidigen.
Für Militärhistoriker Potempa ist es ein undurchsichtiges Gemenge, das die Wehrmacht im Angesicht der sich abzeichnenden Niederlage weiterkämpfen ließ: der unerschütterliche Glaube an den Endsieg, die Wirkmacht der NS-Propaganda, die Schauergeschichten, die man sich über einrückende Rotarmisten erzählte. „Volksverrätern“ drohte das Standgericht, bis in die letzten Stunden. Potempa: „Wer es zu früh gewagt hatte, die weiße Fahne zu hissen, ist ganz schnell am nächsten Baum aufgehängt worden.“
Es dauerte bis zum 8. Mai, bis die Tyrannei ein Ende hatte. Heute vor 70 Jahren kapitulierte die Wehrmacht ohne jede Bedingung, gut eine Woche nachdem Rotarmisten auf dem Reichstag in Berlin die Flagge der Sowjetunion gehisst hatten. Mit den nicht selten alkoholgetränkten Siegesfeiern kamen Plünderungen und Vergewaltigungen. Unzählige Deutsche, vornehmlich bekennende Nationalsozialisten, nahmen sich gegen Kriegsende das Leben. Zehntausende Häftlinge, in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück oder auf Todesmärschen, wurden von den Sowjets in den letzten Apriltagen befreit.
In der Schlacht um Berlin starben auf beiden Seiten schätzungsweise 150 000 Soldaten. Zehntausende Zivilisten und ungezählte Gefangene des NS-Regimes kamen kurz vor Kriegsende ums Leben. Die Befreiung vom Nationalsozialismus hatten die Menschen um Berlin besonders teuer bezahlt.
Von Bastian Pauly