Brandenburg: Familien in der Krise. Was tun, wenn die Grundlagen fehlen?

Seine Hausaufgaben tippt Tobias Strauss (Name geändert) in sein Mobiltelefon, Taste für Taste, will er etwas ausdrucken, dann fragt er bei seinen Großeltern nach, oder seiner Tante, die wohnt nur einen Sprung entfernt. Strauss ist 15 Jahre alt, er ist der Sohn einer alleinerziehenden Mutter, er will mal Polizist werden und momentan beschäftigen ihn vor allem zwei Dinge: Seine Freundin, die weit weg wohnt und die Frage, ob und wie es mit der Schule und ihm weiter geht. Tobias Strauss hat keinen eigenen Computer, keinen Drucker. Die Online-Konferenzen seiner Klasse schaut er sich über sein Telefon an. Wie soll er da mithalten? Seit die Schulen wegen der Pandemie geschlossen sind, lernen Kinder zu Hause, Eltern werden zu Lehrern und Kinder- zu Klassenzimmern. Manchmal gelingt dieser Übergang reibungslos, manchmal aber auch nicht. Weil Zeit fehlt oder Ruhe, weil Eltern und Kinder überfordert sind von den neuen und den alten Rollen, in die sie je nach Tageszeit schlüpfen sollen. Manchmal fehlen aber auch einfach die Grundlagen, der Computer, ein Drucker und eine stabile Leitung ins Internet. In manchen Fällen hilft die Schule mit Leihgeräten aus: Es gibt keine Zahlen dazu, in wie vielen Familien in Brandenburg diese Grundlagen fehlen. Natürlich könnte man schauen, wie viele Familien auf staatliche Hilfen angewiesen sind, aber nicht jeder, der wenig Geld hat, dem fehlt ein Computer, an dem er seine Hausaufgaben machen kann. Und: Auch Familien mit mittleren Einkommen und mehreren Kindern haben nicht immer ausreichend digitale Endgeräte im Haus. In manchen Fällen helfen Schulen mit Leihgeräten aus. Kommunen verteilen Gutscheine an betroffene Familien oder irgendjemand in der Nachbarschaft hat noch ein altes Gerät übrig. In manchen Fällen ist da aber kein Nachbar, kein Leihgerät oder Bürgermeister, der aushilft. Wie bei Tobias und seiner Mutter Anja Strauss (Name geändert). Anja Strauss ist eine schüchterne Frau, die nicht gerne im Mittelpunkt steht. Trotzdem möchte sie über ihre Situation sprechen, aber ohne ihren Namen in der Zeitung zu lesen. An diesem Morgen sitzt sie im ersten Stock einer kleinen Remise, im Zentrum von Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald), im Büro von SHIA, einem Zusammenschluss von Alleinerziehenden in Brandenburg. Strauss trägt ihre Haare kurz, alles an ihr wirkt zurückhaltend, nur die Nägel glitzern in allen Blautönen des Meeres. „Die habe ich mir zuletzt gegönnt.“ Es klingt wie eine Rechtfertigung. Strauss lebt von Erwerbsminderungsrente, plus Unfallrente und Unterhalt vom Kindsvater. Rund 1.400 Euro kämen monatlich zusammen, sagt Strauss. Für Wohngeld ein paar Euro zu viel, für einen neuen Computer zu wenig. 55 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden gelten als arm: Neben ihr am Tisch, mit ein wenig Abstand, sitzt Birgit Uhlworm, eine schmale Frau, die sich seit 30 Jahren darum kümmert, dass Frauen und Kinder wie Anja Strauss und ihr Sohn gehört werden. Eine Aufgabe, die in den letzten Jahren nicht kleiner geworden ist, noch weniger dringlich. Die Zahlen sprechen für sich: 55 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden gelten in Brandenburg als arm, nirgends sonst in Deutschland ist dieser Wert so hoch. Bundesweit wachsen rund 45 Prozent aller Kinder, die auf Sozialleistungen angewiesen sind bei Alleinerziehenden auf. Sozialverbände wie der Paritätische Wohlfahrtsverband warnen davor, dass sich dieser Trend durch die Pandemie noch verstärken wird. Birgit Uhlworm ist Gründungsmitglieder von SHIA und eine von zwei Angestellten des Vereins. Die Wände in ihrem Büro gleichen einem Fotoalbum. Bunt bemalte Kindergesichter auf einem Fest, Ausflüge aufs Land und in den Zoo. Frauen, Mütter die lachend in die Kamera schauen. Uhlworm ist jetzt 60, ihre Tochter hat sie alleine großgezogen, sie weiß also was es bedeutet, wenn alles auf den eigenen Schultern lastet. Auf Anja Strauss lastet momentan nicht nur das schlechte Gewissen, weil ihrem Sohn die nötigen digitalen Grundlagen fehlen, auf ihr lasten auch rund 70 Euro mehr im Monat. Denn seit ihr Sohn zu Hause ist, fällt das Schulessen weg, die Einkäufe werden größer uns ebenso die Rechnung für die Nebenkosten. „Das ist Geld, dass ich eigentlich nicht habe“, sagt Strauss. Und wenn sie es doch hat, dann nur weil sie spart, vor allem an sich. Die Hilfen kommen mit bei den Familien an: „Viele der Alleinerziehenden, versuchen gerade alles, um ihren Kindern das Nötige zu bieten“, sagt Birgit Uhlworm und viele würden scheitern, an Maßnahmen und Behörden, die eigentlich dazu gedacht sind, Familien wie die von Anja Strauss und ihrem Sohn zu unterstützen. Die familienpolitischen Maßnahmen in Deutschland sind eng verwoben und alles wird verrechnet. Kindergeld wird als Einkommen angerechnet und von Leistungen des Arbeitslosengeld II abgezogen. Und der jüngst ausgezahlte Corona-Kinderbonus wurde mit dem Unterhalt des abwesenden Elternteils verrechnet. Für Birgit Uhlworm ist das mit ein Grund, warum so viele alleinerziehende Frauen finanziell so schlecht da stehen. „Die Hilfen kommen einfach nicht an.“ Anja Strauss, die bisher still zugehört hat, nickt. Dann erzählt sie von Freundinnen, die vom Jobcenter Sachleistungen statt Geld für nötige Anschaffung fürs Kind bekämen. „Die denken, wir geben das Geld nicht für unsere Kinder aus“, sagt Strauss. Uhlworm erzählt von Müttern, denen das Jobcenter jetzt Darlehen angeboten habe, damit diese ihren Kindern die nötigen Computer kaufen könnten. „Die sollen Schulden machen, die sie nicht zurückzahlen können“, sagt Uhlworm, sie ist sichtlich empört. Und das obwohl sie das immer gleiche Thema seit 30 Jahren bearbeitet. „Ich würde mir wünschen, dass man diese Familien mit finanzieller Soforthilfe unterstützt.“ 22.000 digitale Endgeräte für Brandenburgs Schüler: Eine Forderung, die so ähnlich auch Sozialverbände formulieren, nicht nur in Brandenburg, sondern deutschlandweit. Dass diese Forderung begründet ist, zeigt nur nicht das Beispiel von Anja und Tobias Strauss. Laut einer Studie der Bertelsmann- Stiftung haben 24 Prozent der Kinder in Deutschland, die Sozialleistungen beziehen, nicht die nötige Ausstattung, um online am Unterricht teilzunehmen. Die Folgen liegen auf der Hand, warnen die Sozialverbände: Noch mehr Ungleichheit in der Bildung als bisher – und dass trotz Millionen Euro aus dem DigitalPakt von Bund und Ländern. 22.000 Computer und Tablets sind in den Brandenburger Schulen bisher aus Geldern des DigitalPakt durch die Schulen angeschafft worden. 22.000 Geräte für rund 244.000 Schüler im Land. Anfang Januar kündigte Bildungsministerin Britta Ernst an, dass weitere 23 Millionen aus dem Corona-Rettungsschirm des Landes bereitgestellt werden sollen. Für Anja Strauss und ihren Sohn kommt diese Hilfe zu spät. Eine Lösung ist trotzdem in Aussicht: Auf Spendenbasis hat der Verein von Birgit Uhlworm zehn alte Computer gekauft, die gerade neu bespielt werden. Einen davon bekommt Tobias Strauss. Vermutlich schon nächste Woche. Von Gesa Steeger