Ehemalige DDR-Heimkinder sollen gegen ihr Trauma anschreiben

Das Leben im Heim oder auf dem Jugendwerkhof konnte für Kinder die Hölle sein. Die Wahrheiten über Missbrauch, Gewalt und Misshandlungen in Heimen sowohl der alten Bundesrepublik wie auch der DDR kamen erst nach und nach in den 90er- und 2000er-Jahren ans Licht. Noch immer gibt es viele unerzählte Einzelschicksale. Etwa eine halbe Million Kinder in der ehemaligen DDR haben einen Teil ihrer Kindheit im Heim oder einem Jugendwerkhof verbracht, schätzt die Medical School Berlin (MSB). Die Erlebnisse dort belasten viele Menschen noch heute. Das Projekt „Erfahrungen in DDR-Kinderheimen – Bewältigung und Aufarbeitung“ unter Leitung der Professorin für Psychotherapie, Birgit Wagner, soll Menschen helfen, mit ihren Erfahrungen besser zurecht zu kommen. Sie sollen sich ihr Trauma buchstäblich von der Seele schreiben. Finger brechen, um dem Alltag zu entfliehen: Zu Schreiben gäbe es gewiss genug. Laut einer Untersuchung im Auftrag der Brandenburger Aufarbeitungsbeauftragten stellte das Ministerium für Volksbildung selbst teils katastrophale Zustände in den Heimen fest. Die Einrichtungen in Halle, Wernigerode, Halberstadt, Magdeburg, Brandenburg/Havel und Potsdam waren überbelegt, Kinder mussten zu zweit in einem Bett schlafen. In Gühlen-Glienicke waren Jugendliche in nicht beheizbaren Räumen untergebracht und schliefen auf Brettern. Aus dem Jugendwerkhof Lehnin wird von einem Jugendlichen berichtet, der sich selbst den Finger brach, um dem Alltag der mit militärischem Drill geführten Einrichtungen für ein paar Tage zu entfliehen. Lesen Sie auch: Misshandlung, Vergewaltigung, Demütigung – ein ehemaliges Heimkind berichtet Schreiben hilft, traumatische Erfahrungen dieser Art zu bewältigen, meint die Psychotherapeutin Birgit Wagner. Das habe sich zum Beispiel bei Menschen, die Angehörige durch Suizid verloren, schon gezeigt. Die Teilnehmer des MSB-Projekts sollen online eine Art Tagebuch über ihre Heim- oder Jugendwerkhofzeit führen. Insgesamt erstreckt sich diese Aufarbeitung über sechs Wochen. Psychologen unterstützen die Schreibenden: „Es geht uns darum, ein niederschwelliges Angebot zu machen“, sagt die an dem Projekt beteiligte Psychotherapeutin Maya Böhm. „Es können sich auch Leute beteiligen, die einfach schreiben möchten.“ Das könnten auch gute Erinnerung an die Zeit im Heim sein. Im Vordergrund stünden aber belastende Erlebnisse und der Umgang mit diesen. „Wenn jemand auf unserer Plattform registriert ist, bekommt er oder sie einen Diplom-Psychologen oder eine Diplom-Psychologin zugewiesen“, erklärt Böhm. Lesen Sie auch: Heimkinder dokumentieren ihr Martyrium Vielen Betroffenen sei nicht bewusst, dass sie überhaupt Verletzungen erfahren hätten. „Manche denken: Das war doch ganz normal.“ Aufgabe des begleitenden Psychologen sei es, darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel ein bestimmtes Verhalten eines Betreuers gar nicht normal gewesen sei. Kein Ersatz für klinische Psychotherapie: Projektleiterin Wagner und ihre Mitarbeiterin Böhm haben den Anspruch, dass es den Teilnehmern nach den sechs Wochen besser geht, dass sie vielleicht keine Beschwerden wie Unruhe mehr haben oder besser schlafen, nicht mehr so viel über Dinge grübeln oder sich nicht mehr so gehemmt fühlen. „Es geht darum, dass die Teilnehmer bewusst in ihr Leben integrieren können, was ihnen damals passiert ist“, sagt Böhm. Dadurch können viele an Lebensqualität und zu mehr innerer Ruhe finden. Inwieweit das möglich und wie wirksam eine solche „Schreibtherapie“ sein kann, will die MSB durch eine wissenschaftliche Begleitung des Projekts herausfinden. Sei Beginn des Projekts Anfang des Jahres haben sich 60 Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet registriert, einige auch aus Brandenburg. Die MSB nimmt weiterhin Teilnehmer auf. Allerdings rät die Hochschule Menschen, die besonders schwere Störungen haben, zu einer intensiven psychotherapeutischen Behandlung. Ein Ersatz für eine klinische Psychotherapie will „Erfahrungen in DDR-Kinderheimen“ nicht sein. „Ich war nicht schuld“: Das Projekt unterliegt der Schweigepflicht. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass einige Teilnehmer sich zur Publikation ihrer Erinnerungen entschließen und so zur zeitgeschichtlichen Forschung beitragen. „Unsere Teilnehmer können ihre Texte veröffentlichen, wenn sie das wollen“, so Böhm. Damit würden sie mehr Licht in einen noch gar nicht so bekannten Bereich der Zeitgeschichte tragen. Auch die Begründerin des Projekts, Birgit Wagner, war vor Jahren erst vom Bericht eines Zeitzeugen so beeindruckt worden, dass sie überhaupt auf die Idee kam, für Betroffene könne mehr getan werden. Ein ehemaliger Teilnehmer, der schon mehrere Therapien hinter sich hatte, schrieb laut Wagner: „Je weiter ich mich darauf einließ, umso besser wurde es.“ Er habe erkannt: „Ich war nicht schuld und ich musste niemanden mehr etwas beweisen.“ Von Rüdiger Braun