Wie lebt es sich im Märkischen Viertel in Berlin?

Wolf-Borwin Wendlandt steht fröstelnd zwischen Hochhausblöcken und spricht über Heimat. Fast 50 Jahre ist es her, dass er in einem Architektenbüro ein Bau-Projekt am Senftenberger Ring mitplante. Als er von weitem an einem Hauseingang erkennt, dass einer seiner Einfälle von damals die Zeit überdauert hat, eilt er zur Tür. Der 75-Jährige mit dem sorgfältig gestutzten Schnauz- und Kinnbart wuchs im Internat auf, sein Vater arbeitete im Ausland. Wolf-Borwin Wendlandt wurde früh Vater, heiratete und entschied sich, auch beruflich das zu verfolgen, was ihm vorher selbst verwehrt blieb. „Ich hatte nie ein richtiges Zuhause und wollte doch unbedingt eines erschaffen“, erklärt er. Wendlandt – der nicht nur als Architekt, sondern auch als Denkmalpfleger arbeitete – will nun mit seinem Enkel zurückkehren und ihm zeigen, was er früher gebaut hat. Dass das nicht leicht zu erklären sein wird, weiß er auch. Der Senftenberger Ring bildet den Kern eines Retortenviertels, das auf den ersten Blick wenig einladend wirkt. In manchen Häusern leben mehr als 100 Mietparteien, im ganzen Viertel fast 40 000 Menschen, die aus weit mehr als 100 Nationen stammen. Ist einmal vom Märkischen Viertel die Rede, dann fallen Begriffe wie „Ghetto“ oder „Sozial-Labor“. Als seien die dort lebenden Familien so etwas wie Versuchstiere. Der Senftenberger Ring trägt seit April 1967 seinen Namen. Die namensgebende Stadt liegt im Landkreis Oberspreewald-Lausitz. Knapp 25 000 Einwohner leben in Senftenberg, zum Ende der DDR waren es mehr als 30 000. Allerdings erlebt der erstmals im 13. Jahrhundert urkundlich erwähnte Ort eine erstaunliche Entwicklung. Zum Beispiel kulturell: Die Neue Bühne Senftenberg wurde 2005 zum deutschsprachigen Theater des Jahres gewählt. Die Aufführungen im Amphitheater am Senftenberger See werden ebenfalls überregional wahrgenommen und bieten zudem Gastauftritte von vielen bekannten Künstlern. Um Senftenberg herum hat sich die ehemalige Tagebaulandschaft zur größten zusammenhängenden Seenlandschaft Europas mit insgesamt 23 größeren Seen entwickelt. Senftenberg trägt zudem den Titel als anerkannter Erholungsort. In einem der wenigen Flachbauten des Areals sitzen Rentnerinnen im Nachbarschaftstreff bei Kaffee, Crackern und Käse-Dip. Eine Frau, die seit 47 Jahren im Senftenberger Ring wohnt, blickt von ihrem Supermarkt-Prospekt auf und erklärt, warum das Leben im Viertel nicht mehr ganz so schön sei wie es mal war: „Die ganzen Ausländer“. Fotos auf dem Flur zeigen einige der Damen, wie sie in weißer Schutzkleidung mit Sprühdosen durchs Viertel ziehen. Sie überdecken Schmierereien auf Trafokästen, sehen dabei aus wie eine Mischung aus Straßen-Gang und Ghostbusters. Wenn ältere Damen als einmal Sprayer um die Häuser ziehen, dann mag auch manch anderes Klischee bedroht sein. Zum Revier der Street Worker gehört der Skate Park. Er ist für viele, die die Langweile auf die Straße treibt, ein Treffpunkt und zugleich eine Art Bühne. Wenn Nico Haas, 26 Jahre alt, mit seinem Scooter über die Rampe rollt, dann ist er einer der Stars. Er ist im Märkischen Viertel aufgewachsen und bricht alle Ghettobrüder-Klischees. Statt Drogen zu verticken, arbeitet er für einen renommierten Berliner Betrieb als Zerspanungsmechaniker. Sein Handy klingelt, es geht um die Altersvorsorge. Danach zeigt er eine Karte mit allen Skateparks in Europa, die er bereits bereist hat. „Die Vielfalt im Viertel hat mich offen gemacht“, sagt er. Aus dem Märkischen Viertel in die Welt – aber auch immer zurück. „Ich will nicht woanders leben.“ Von Maurice Wojach

Brandenburger Straßen in Berlin - Wie lebt es sich im Märkischen Viertel in Berlin?