Befreiung im Zuchthaus Brandenburg vor 75 Jahren

Nach den vielen einsamen Monaten in der Todeszelle ist Horst Schmidt darauf nicht gefasst. Sowjetische Soldaten holen den 24 Jahre alten Todeskandidaten am 27. April 1945 ins Freie. So verwirrt ist der junge Mann nach andauernder Todesangst, dass er zunächst einfach wieder in seine Zelle zurückkehrt. Am kommenden Montag jährt sich der Tag der Befreiung zum 75. Mal. 3500 Menschen im Zuchthaus auf dem Görden verdanken den Sowjetsoldaten ihre Freiheit, die an jenem Freitag im April 1945 mit einem Panzer angerückt sind. An den Jahrestag wollte die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten am kommenden Sonntag mit einer Feier und einer neuen Ausstellung erinnern. Beides muss wegen der Covid-19-Pandemie ausfallen beziehungsweise verschoben werden, bedauert die Historikerin Sylvia Pasquale, Leiterin der Gedenkstätten in Brandenburg/Havel. Viel Herzblut haben die Historiker in beides gesteckt. Nun müssen sie umplanen (s. Infobox). „Der Raum für die Präsentation im einstigen Direktorenhaus auf dem Görden ist leer geräumt, doch der geplante Aufbau der Ausstellung mussten wir wegen Corona stoppen“, erklärt de Pasquale. Somit kann zum Beispiel auch ein Video nicht gezeigt werden, in dem die Überwältigung der Brandenburger Zuchthaus-Häftlinge zum Ausdruck kommt, die sich in dem Ausruf zuspitzt: Die Russen sind da. Hoffnung und Angst: Vor den im Zuchthaust zusammengepferchten rund 3500 hungernden politischen Gefangenen und auch Kriminellen liegen „Monate zwischen Hoffnung und Angst“, wie Sylvia de Pasquale erklärt. Denn auch im Zuchthaus hat sich seit Januar 1945 herumgesprochen: Die sowjetische Front rückt näher. Das gibt Hoffnung. Auf der anderen Seite bangen die Gefangenen, wer eher ankommt: Wehrmacht und SS oder Befreier aus der Sowjetunion oder den USA? Sie wissen von dem Massaker in Sonnenburg bei Bad Freienwalde. Im dortigen Zuchthaus haben Gestapobeamte aus Frankfurt/Oder auf Anordnung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium, Herbert Klemm, in der Nacht auf den 31. Januar 819 Häftlinge erschossen. Hinrichtungen eine Woche vor der Befreiung: Dieses Wissen schürt die Angst. Zumal die Hinrichtungen mit dem Fallbeil im Brandenburger Zuchthaus weiter ihren bürokratischen Gang nehmen. Noch am 20. April 1945 werden 28 Gefangene hingerichtet, sieben Tage vor der Befreiung. So erklärt sich leicht die Fassungslosigkeit von Horst Schmidt, der wie 161 weitere Männer noch auf der Todesliste des Zuchthauses auf dem Görden steht. Der junge Zeuge Jehovas hatte Abschriften der biblischen, damals verbotenen Zeitschrift „Der Wachtturm“ als Kurier von Berlin nach Danzig gebracht. Die Gestapo fasste ihn, misshandelte ihn und verurteilte ihn als Kriegsdienstverweigerer zum Tode. Bei 113 Zeugen Jehovas in Brandenburg/Havel wurde ein solcher Urteil mit dem Fallbeil auch vollstreckt. Zuchthausleiter setzt sich ab: Doch wie die anderen Gefangenen muss er das Zuchthaus in seiner explosiven Stimmung schon am Tag der Befreiung verlassen und sich durchschlagen. „Am 28. April wurde das Zuchthaus geräumt“, berichtet de Pasquale. Zuchthausleiter Herbert Thümmler und andere Beamte haben sich da schon samt ihren Frauen in einem Lastwagen mit reichlich Proviant in Richtung Elbe abgesetzt. Horst Schmidt hat es bis zu einer Laubenkolonie in Berlin nicht so weit wie die meisten anderen Gefangenen. Von dem norwegischen Widerstandskämpfer Martin Blindheim (1914-2009) ist bekannt, dass er Oslo erst im folgenden Jahr erreicht. „Wir wissen insgesamt noch sehr wenig über die Wege, Verirrungen und Erlebnisse der befreiten Gefangenen bis zu ihrer Heimkehr“, räumt die Gedenkstättenleiterin ein. Daher ist ein Kapitel der verschobenen Ausstellung diesem Thema gewidmet. Empfang mit Blumen in Brügge: Von Georges Michotte (1918-1999) aus dem belgischen Oostende weiß man, dass er seine Verwandten in Brügge mit einer Zwischenstation im Neuruppiner Krankenhaus am 21. Juli 1945 erreicht und dort mit Blumen empfangen wird auf einem öffentlichen Platz, der mit einem Trauerflor für die Opfer geschmückt ist. Die Erinnerung an den befreiten belgischen Gefangenen sollte im Mittelpunkt der Jubiläumsgedenkfeier am kommenden Sonntag stehen. Ihr Kommen hatten Michottes Tochter Daniëlle und Enkel Hugues Parasie zugesagt, der auch über seinen Großvater sprechen wollte. Bruchstücke ’45 heißt die Ausstellung der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Sie sollte sich aus fünf kleineren Sonderausstellungen im Land Brandenburg zusammensetzen und im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam gezeigt werden. Einer der fünf Ausstellungsorte der Stiftung sollte in dem Jubiläumsjahr der Görden sein. Die Brandenburger Historiker wollten – ohne die Corona-Krise – veranschaulichen, wie die letzten Monate der Befreiung und der Tag selbst gelaufen sind und was Häftlinge unmittelbar danach erlebt haben. Seit dem 10. April posten die Stiftungsmitarbeiterinnen bis Mai regelmäßig kurze Beiträge zum Thema auf den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram. Die digitale Serie hat mit dem norwegische Gefangenen Olav Brennhovd begonnen, der seine Gedanken der letzten Kriegswochen in einem geheimen Tagebuch festgehalten hat. Petra Schantze erinnert in einem Video an ihren Großonkel Friedrich Klemstein (1893-1945), der am letzten Hinrichtungstag auf dem Görden enthauptet wurde. Der ursprünglich wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilte Georges Michotte gehört nach Angaben von de Pasquale zu den „Nacht-und-Nebel-Häftlingen“, über deren Verbleib keine Informationen an die Angehörigen gegeben wurden. Die Internationale in allen Sprachen: Von ihm ist folgendes Zitat zum 27. April 1945 überliefert: „. . . und so hörten wir gegen drei Uhr Rufe und Freudenschrei e. . . Die Russen sind da. Im Freudentaumel erklingt die Internationale in allen Sprachen. Wir sind frei!“ Der junge Belgier hatte sich nach der Befreiung in Häftlingskleidung auf den Weg nach Hause gemacht. Das war ihm wichtig, jeder auf dem Weg sollte ihm sein Schicksal ansehen. „Es ist auffällig, dass kaum Personalakten der Häftlinge in Brandenburg erhalten geblieben sind“, berichtet Sylvia de Pasquale. Gerade die Kommunisten und die anderen politischen Gefangenen hätten großen Wert darauf gelegt, sich ihre Häftlingsausweise von den Sowjets abstempeln und lassen und mitzunehmen. Von Jürgen Lauterbach

Brandenburg an der Havel / Covid-19 - Fassungslose Freude in der Todeszelle: Die Russen sind da!