Bodens Woche: Warum ein Neuanfang manchmal das Beste ist

Ich habe mittlerweile ziemlich viele Bücher über das Thema Segeln geschrieben. Neben Reiseführern auch Bücher über die Praxis. Einer meiner Lieblings-Ratschläge beim Thema Anlegen von Booten ist folgender: Wenn ein Anlegemanöver in die Hose geht, ist es oft besser, die Box wieder zu verlassen und nochmal ganz von vorn zu beginnen. In bestimmten, schwierigen Situationen, wenn man viel Seitenwind oder gar Strömung hat und, wie ich früher, oft allein unterwegs ist, bekommt man versemmelte Anlegemanöver häufig nicht mehr hin. Dann fährt man einfach wieder rückwärts raus, macht alle Leinen wieder klar, schaut sich die Situation nochmal an, entwirft eine neue Strategie und beginnt das Anlegen von vorn. Und vor allem: Ruhe bewahren, nicht hektisch werden – auch wenn man Hauptdarsteller vom sogenannten „Hafenkino” ist, weil überall auf den anderen Booten Schaulustige mit Käffchen oder Bier in der Hand sitzen und drauf warten, dass man den Steg in Schutt und Asche fährt. Diesen Gaffern bietet man immer dann ein herrliches Kino, wenn man versucht, ein schief gegangenes Manöver durch Hinzunahme mehrerer Leinen zu retten, noch mehr Fender auswirft, sich mit dem Bootshaken abstützt, hektisch Gas gibt. Das führt unweigerlich zu Löchern im eigenen oder fremden Booten, im schlimmsten Fall zu Löchern im eigenen Körper. Und dann hört man von den anderen Booten Sätze wie: „Schatz, bring mir doch bitte noch ein Bier, das wird lustig.“ Setzt man dagegen nochmal neu an, legt sich gar eine Wurfleine für einen beherzten Zehn-Meter-Wurf zurecht, macht das neue Manöver in Ruhe und durchdacht und legt dann lässig beim zweiten Versuch an, stehen die selben Leute zehn Minuten später am Steg und suchen ehrfürchtig das Gespräch: „Schönes Boot – schon lange unterwegs?“ 100 Tipps für Segler: Ich habe vor drei Wochen ein neues Buch mit 100 Tipps für Segler veröffentlicht, wo ich auch solche Manöver beschreibe. Vielleicht sollte ich mal zehn Exemplare ins Kanzleramt schicken. Lesen Sie auch Warum wir alle bekloppt sind Kontrollverlust in luftigen Höhen Lockerungen funktionieren wie Prüfungen Ich jedenfalls hätte nie gedacht, dass man die Einleitung zu einem Artikel über ein Pandemiegeschehen mit einem Segelthema beginnen kann, aber die Ereignisse eignen sich dafür echt prima. Denn das, was gerade passiert, kann man durchaus mit einer solchen Situation vergleichen: Das bisherige Manöver ist völlig in die Grütze geritten worden, und nun wird hektisch und ganz augenscheinlich mit sehr wenig Bedacht versucht, diese Situation noch zu retten. Schleudertrauma vom Kopfschütteln: Als ich die Ergebnisse der letzten Bund-Länder-Konferenz in der Zeitung las, hatte ich eine halbe Stunde später so eine Mischung aus Schleudertrauma vom Kopfschütteln und einem beginnenden Tourette-Syndrom. Erst sollte am Donnerstag alles geschlossen werden, dann wieder nicht. Vor Feiertagen ist sowieso schon immer die Hölle los und man hätte drauf kommen können, dass das keine gute Idee war – und zwar, bevor man sie hat. Dann muss man auch nicht zurückrudern und sich entschuldigen. Gleichzeitig fliegen zigtausend Deutsche nach Mallorca in den Urlaub. Allein Eurowings setzt aufgrund der hohen Nachfrage über Ostern rund 300 Flüge zusätzlich ein. Das sind so rund 60.000 Menschen. Wie sinnvoll sind Fernreisen in Pandemiezeiten? Abgesehen davon, dass die Frage gestattet ist, ob eine Fernreise in ein überfülltes Gebiet derzeit eine gute Idee ist, versteht doch niemand mehr ernsthaft, welche Strategie eigentlich gerade verfolgt wird. Glaubt denn irgendwer, dass sich überhaupt irgendjemand an irgendetwas hält? Soll solch ein Hin-und-Her nun das Mittel sein, die dritte Welle zu brechen? Ist eine „Ach-nee-doch-nicht“-Politik geeignet, Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln zu bewegen? Das, was seit einiger Zeit in den Konferenzen beschlossen wurde, kann man als „Verschlimmbessern“ bezeichnen. Man hätte wirklich nochmal ganz neu ansetzen müssen, sich nicht treiben lassen von Wahlumfragen, Medien und öffentlichem Druck. Diese Beschlüsse waren zaghaft, unsortiert, ängstlich und nicht zu Ende gedacht. Vielleicht sollte man mal morgens um 9 Uhr anfangen, zu beraten, statt erst am Nachmittag und dann um 3 Uhr morgens irgendwelche wirren Dinge zu beschließen, weil das Bettchen ruft und die ministerialen Augen schwer werden. Politiker bieten ein erbärmliches Bild: Ich bin seit jeher weit davon entfernt, alle Schuld immer auf die Politik zu schieben, weil ich Eigenverantwortung für klüger halte. Aber dafür sollten auch kluge Entscheidungen getroffen werden. So aber nimmt das kaum jemand ernst, weil das Bild, was derzeit abgegeben wird, getrost als „erbärmlich“ bezeichnet werden kann. Wenn Deutschland ein Segelboot wäre, würde ich so allmählich auf die Idee kommen, von Bord zu springen. Oder frei nach Helge Schneider: „Dann schmeiß’ ich das Boot weg und geh’ nach Hause.” Von Stephan Boden