Brandenburg/Havel: Wie inklusives Wohnen funktioniert

Wer hier einzieht, darf sich auf Neues einrichten: Lichtschalter und Türknaufe sind nicht in der gewohnten Höhe von 1,05 Meter, sondern in 85 Zentimetern Höhe angebracht. Die durchgehend bodentiefen Fenster haben teilweise innen das Brüstungsgitter als Anfahrschutz. Im ganzen Haus gibt es auf 2800 Quadratmetern keine Schwelle, höchstens hinaus auf den Balkon oder die Terrasse sind mal 1,5 Zentimeter zu überwinden. Die Duschen sind bodengleich, in jedem noch so kleinen Bad gibt es mindestens 1,50 Meter freien Bewegungsspielraum in jede Richtung. Jede Tür ist so breit, dass ein Rollstuhl hindurch passt. Es ist keine Floskel, wenn Wolfgang Kern sagt: „Leben wie du und ich, teilweise mit Assistenz“. Er ist Sprecher der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal, die gerade an der Krakauer Straße 55/56 ein großes Wohnhaus errichtet. Hier werden 31 Menschen einziehen, die geistig behindert sind oder seelische Schäden haben – und jahrzehntelang auf dem Gelände der heutigen Asklepios-Klinik leben mussten. 13 frei vermietete Wohnungen: Zudem ziehen Menschen in 13 Wohnungen von 35 bis knapp 80 Quadratmeter Fläche ein, die frei vermietet werden. „Sie sollen sich begegnen, treffen, sprechen, aufeinander achten. Es sollte ein stadtnahes Quartier sein, aber auch nicht abgeschottet. Nur so kann man Inklusion leben“, sagt Arne Breder von der Stiftung. Und auch Architekt Jan Jeschonnek, der das Projekt vom ersten Federstrich bis zur Vollendung begleitet, hat seinen Anteil daran. Er hat nicht nur großzügige Gemeinschaftsräume mit Küchen für die Lobetal-Bewohner entworfen, sondern auch Nischen und Freiräume sowie gemeinsame Balkone für die Bewohner wie für die Mieter eingebaut. „Die Loggien haben den Charakter eines Freisitzes, hier kann man zusammen Bier trinken und reden.“ Gegliederte Fassade: Der Planer hat dabei das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Damit das 66 Meter lange und 14,50 Meter breite Haus nicht wie ein monolithischer Block dasteht, arbeitete er sehr viel mit waagerechten und senkrechten Aufbrüchen in der Fassade, versetzte auch die einzelnen Elemente, so dass es etwas geschwungen ziemlich dem Straßenverlauf folgt. Im Inneren ist es dann ziemlich klar strukturiert, aber es bleibt eben der Platz für die Nischen und Rückzugsräume. Die meisten Lobetal-Bewohner wohnen in Achter- beziehungsweise Sechsergruppen. Einige haben komplett eigene Apartments, sie werden auf ein komplett eigenständiges Leben vorbereitet und nehmen Hilfen nur nach Bedarf in Anspruch. Freude aufs eigene Bad: „Ich freue mich am meisten auf mein eigenes Bad und dass ich eine kleine Küche habe“, sagt Carola Winkler (60). Die eigenen Bäder seien für viele der größte Luxus, das kennen sie bisher so gut wie gar nicht, bestätigt Simone Gutzker, sie wird das Haus leiten. Zu ihrem Team gehören 20 Mitarbeiter – vor allem Pädagogen und Pfleger. So gibt es im Erdgeschoss auch drei große Gruppen- und Beschäftigungsräume, die mit deckenhohen Schiebetüren verbunden oder geschlossen werden können. Es gibt auch ein Farbkonzept im Hause, da hatten die Mitarbeiter ein entscheidendes Mitspracherecht. „Wir haben es aber bewusst nicht wie eine Kita oder ein Krankenhaus gestalten wollen, wo ganze Bereiche einer Farbe zugeordnet sind“, sagt der Architekt. Das Wohnen soll eben so „normal“ wie möglich sein. Möbel werden gemeinsam gekauft: Ähnliches gilt auch fürs Einrichten der Bewohnerzimmer. Wer eigene Möbel hat, kann diese mitbringen. Wenn nicht, werden diese gestellt. Aber nicht mit Möbeln aus dem Depot oder aus dem Krankenhauskatalog. „Wir gehen dann mit unseren Bewohnern einkaufen, auch mal zu Ikea. Da können sie sich alles aussuchen. Das gehört einfach zu unserem Konzept von ,Leben wie du und ich’“, sagt Stiftungssprecher Kern. Die Bewohner entscheiden wie alle anderen auch, in welcher Umgebung sie sich wohlfühlen. Das ursprüngliche Ziel, das ganze Haus noch vor Weihnachten zu bewohnen, kann nicht ganz eingehalten werden. Dafür wird es im Januar den großen Einzug geben. Für die frei vermietbaren Wohnungen werde man Mitte September in den Vertrieb gehen, in den kommenden beiden Wochen sollen noch die Mietsätze berechnet werden. Eines kann Breder aber schon versprechen: „Wir werden weniger als zehn Euro Kaltmiete aufrufen.“ Von André Wirsing