Die letzten Kriegstage in Brandenburg an der Havel

In Belzig gab es kluge Männer, die das Schlimmste verhinderten. Lehrer Arthur Krause und Pfarrer Erich Tscheschog übergaben die Stadt der Roten Armee, aus vielen Häusern wehten weiße Fahnen. Belzig ergab sich. Brandenburg an der Havel indes hatte einen dunkelbraunen Oberbürgermeister und einen Kampfkommandanten, die die Stadt um jeden Preis verteidigen wollten – was nach den Bombenangriffen am 31. März und 20. April weiteres Leid über die Menschen brachte. Dabei wurde besonders die Neustadt zum Trümmerfeld. Den letzten großen Bombenangriff auf Brandenburg erlebte Claus Ulrich Wiesner im Hochbunker am Hauptbahnhof. „Der sechsgeschossige Betonklotz, der sinnigerweise unmittelbar am Neustädtischen Friedhof lag, war wie immer überfüllt“, notiert der Schriftsteller in seinem autobiografischen Buch „Lebwohl, Rapunzel“ über den 20. April 1945. Fünf Bomben, erinnert sich Wiesner, hätten den Hochbunker am Bahnhof getroffen. „Die Insassen heulen und jammern. Das Jüngste Gericht scheint angebrochen zu sein. Die Beleuchtung fällt aus.“ Unter den Leuten im Bunker machte es die Runde, dass alle Eingänge verschüttet waren. 339 Tonnen Bomben fielen auf die Stadt: Bei diesem Angriff US-amerikanischer Flieger seien in erster Linie „zivile Ziele, Wohnviertel und Verkehrsanlagen westlich von Berlin bombardiert“ worden, schreibt Historiker Frank Brekow in seiner Broschüre über den Luftkrieg. Bei strahlendem Wetter begann das Bombardement um 11.02 Uhr und währte 25 Minuten lang. Aus 137 B-17-Fliegern fielen 339 Tonnen Bomben auf die Stadt herab. Nach späteren Schätzungen sind rund 1100 Menschen ums Leben gekommen – Einwohner, Flüchtlinge, Soldaten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. In zwei seiner zahlreichen Bücher hat Claus Ulrich Wiesner Autobiografisches aus seiner Heimatstadt Brandenburg festgehalten: „Machs gut Schneewittchen“ (Eulenspiegel-Verlag, Berlin 1982) und „Lebwohl, Rapunzel“ (Eulenspiegel-Verlag, Berlin 1985). Claus Ulrich Wiesner erblickte am 1. Januar 1933 das Licht der Welt. Er wuchs in der Bahnhofsvorstadt in einfachen Verhältnissen auf. Nach dem Abitur ging er 1951 nach Berlin. Seit 1964 war er als freischaffender Schriftsteller als Dramatiker, Film- und Hörspielautor tätig und verfasste Texte für verschiedene Kabaretts. Den Brandenburger Undine-Wettbewerb unterstützte Wiesner einige Jahre als Juror. Nach dem Tod seiner Frau 2014 lebte er sehr zurückgezogen und starb im Oktober 2016 in Klosterfelde nördlich von Berlin. Der zwölfjährige Claus Ulrich Wiesner kam heil heraus und mit der Familie zurück in die Wohnung in der Großen Gartenstraße. Die Rote Armee rollte kontinuierlich westwärts. „Schon seit Tagen hatten wir fernen Kanonendonner gehört und uns damit getröstet, dass es vielleicht gar keiner wäre“, schreibt Wiesner in seinem Rapunzel-Buch. „Es soll ja auch im Frühjahr hin und wieder Gewitter geben. An diesem Vormittag konnten wir den Kopf nicht mehr in den Sand stecken.“ >>Lesen Sie auch: Als das Saldern-Gymnasium durch Bomben zerstört wurde Im Neustädtischen Rathaus berieten die Stadtverordneten am 23. April, was zu tun sei. Sie schlugen vor, die Stadt nicht zu verteidigen. Sie bissen auf Granit. „Dem widersprachen der Kampfkommandant, Offiziere der Wehrmacht und Oberbürgermeister Sievers entschieden“, notiert Brekow. Allen Erntes hofften sie darauf, dass die Überschwemmungsgebiete der Havel- und Bruchwiesen den Vormarsch dermaßen behindern würden, dass man Brandenburg verteidigen könnte. Am Abend erreichten die ersten Sowjets Netzen – und standen keine 24 Stunden später mitten in der Stadt Brandenburg. Jedes Zeitgefühl verloren: „Damals hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren“, erinnert sich Wiesner. „Die Sonne ging nicht mehr auf, sie ging nicht mehr unter. Alles war anders als bei einem Fliegeralarm, bei dem die Frauen noch munter miteinander geplaudert haben.“ Schier ewig stand ein Panzer vor dem Haus. War es ein deutscher oder ein sowjetischer? Er wusste es nicht. Der Junge hörte nur die Schüsse aus dem Geschütz, die durch den Keller hallten. Und den Mann, der um Hilfe rief. Doch keiner wagte sich hinaus. „Nur wenige Meter von uns entfernt mag ein Mensch verblutet sein.“ Von Süden her stieß die Rote Armee vor. Besonders heftig tobten die Straßenkämpfe in der Hitlerstraße (heute wieder St.-Annen-Straße). Aus Häusern heraus nahmen deutsche Soldaten die Angreifer ins Visier. Den Verteidigern kam zupass, dass die Sowjets nicht sonderlich stark waren. Der erste Kontakt zur Roten Armee: „Und nun steht plötzlich der erste Russe da! Mitten in unserem Keller steht er da“, schreibt Wiesner. Ein junger Kerl, Anfang 20 vielleicht. Bei den Wiesners im Keller sitzen auch Zwangsarbeiter und warten auf den Frieden. Pole Hendryk kommt mit dem Rotarmisten ins Gespräch. „Wir haben wieder mal Glück“, konstatiert Wiesner. Bis zum 25. April rücken Rotarmisten in der Stadt vor. Dann gelingt es der Wehrmacht, die Stadt zu halten. Aus Angst, dass es noch schlimmer kommt, fliehen die Wiesners aus der Stadt und schlagen sich zu Fuß und mit Bollerwagen in Richtung Westen durch. >>Lesen Sie auch: So waren die letzten Kriegstage in der Region Am 30. April ist die sowjetische Übermacht zu groß. Bis die Waffen schweigen, verlieren Hunderte Menschen ihr Leben und gehen zahlreiche Gebäude in Rauch auf. Zwischen Stadtkanal und Heidestraße, Hitlerstraße und Paulikloster breitet sich ein großes Trümmerfeld aus. Kampfkommandant Ludwig Zoeller hatte noch versucht, sich über die Elbe abzusetzen – ohne Erfolg. Als Tag der Befreiung der Stadt Brandenburg an der Havel wird der 27. April begangen. Der Tag, an dem 1945 die Sowjetsoldaten das Zuchthaus befreiten. Seit vielen Jahrzehnten findet zu diesem Anlass am Marienberg, am sowjetischen Ehrenmal und in der Justizvollzugsanstalt Gedenkfeierlichkeiten statt, mit denen man den Befreiern danken und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken möchte. In diesem Jahr wird es dieses Gedenken nicht in der gewohnten Form geben können. Die zur Eindämmung der Verbreitung von Corona notwendigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens lassen dies nicht zu. Das „Bunte Kollektiv Brandenburg“ ruft die Brandenburger auf, eine andere Form des Gedenkens zu nutzen – ohne gegen die Coronaauflagen zu verstoßen. „Wir bedienen uns dabei des alten Symbols der weißen Fahne, mit der die BefreierInnen schon vor 75 Jahren vielerorts in der Stadt empfangen wurden“, teilt Initiatior Sebastian Möckel mit. Wer sich beteiligen möchte, hängt am 27. April eine Fahne, ein Laken, ein T-Shirt, ein Hemd oder ein anderes Stück Stoff – Hauptsache weiß – aus dem Fenster, über den Zaun oder an eine sonst gut sichtbare Stelle. Oberbürgermeister Wilhelm Sievers sah nicht mehr, wie sein Amtssitz niederbrannte. Ihm war die Flucht in die britische Zone gelungen, wo man ihn schnappte, ein Weilchen ins Internierungslager steckte und ihn wegen seiner Beteiligung an der Pogromnacht 1938 zu einer eher kleinen Strafe verurteilte. Wiesner kehrten nach wenigen Tagen in die Stadt zurück. „Sie stank nach Brand und Verwesung, aber die Überlebenden begannen schon aufzuräumen – unter der Leitung eines sowjetischen Stadtkommandanten und eines kommunistischen Bürgermeisters“, liest man bei Claus Ulrich Wiesner. „Unser Haus war stehengeblieben.“ An die Befreiung erinnern: Mutige Menschen hätten, wie damals in Belzig, Schlimmeres verhindern und weiße Fahnen hissen können. Hier setzt die Initiative „Buntes Kollektiv Brandenburg“ um Sebastian Möckel an. Sie ruft dazu auf, am 27. April weiße Tücher oder Hemden aus den Fenstern zu hängen. Eigentlich gedenkt Brandenburg an diesem Tag der Befreiung des Zuchthauses. Doch gehört auch die Veranstaltung zu jenen, die wegen Infektionsgefahr abgesagt worden sind. Von Heiko Hesse

Kriegsende 1945 - Die Hölle öffnet ihre Pforten: So lief die Schlacht um Brandenburg an der Havel