Finanzamt Brandenburg: 7,7 Millionen Euro Mehrsteuern in einem Jahr

Seit mehr als drei Jahren verfolgt ein MAZ-Artikel die Brandenburger Architektin, Kommunalpolitikerin und früheren Gastronomin Martina Marx. So lange hat der Beitrag über das Brandenburger Finanzamt sie daran erinnert, dass sie noch eine Rechnung mit der Behörde offen hat. Mehr oder weniger geduldig hat die Steuerzahlerin auf den Tag gewartet, an dem sie ihr Geld vom Fiskus zurückerhält. Der ist endlich gekommen. Das Finanzamt Brandenburg hat seine in diesem Fall offenbar nicht korrekten Steuerbescheide zurückgenommen und das zu viel geforderte und eingetriebene Steuergeld samt Zinsen zurückgezahlt, wie die MAZ berichtet hat. Ex-Minister Görke rühmte die Betriebsprüfer: Besagter Artikel ist im Februar 2017 erschienen. Der damalige Finanzminister Christian Görke (Linke) lobte seinerzeit die Betriebsprüfer des Finanzamtes in Brandenburg/Havel über den grünen Klee. Nach den Erfahrungen des Ehepaares haben die Betriebsprüfer des Restaurants Am Humboldthain für die Jahre 2011 bis 2014 alles verdient, nur kein Lob. Die einstigen Betreiber des Lokals sind seit vielen Jahren in der Kommunalpolitik engagiert. Ralf Krombholz war eine Zeit lang Baubeigeordneter in Brandenburg/Havel. Rauen Umgang sind sie von daher gewohnt. Doch der Ton in der Politik scheint ihnen im Vergleich als Wohltat. Betriebe mit Bargeldverkehr: Die Betriebsprüfer des Finanzamtes vergleicht das Brandenburger Ehepaar mit einer „Drückerkolonne“, die steuerpflichtige Bürger „einschüchtern und anbrüllen“. Nach dem aus eigener Erfahrung resultierenden Eindruck von Marx und Krombholz legen die Prüfer es systematisch darauf an, die Buchführung in Gastronomiebetrieben, die viel mit Bargeld zu tun haben, zu verwerfen und den Umsatz danach höher schätzen als er ist. Das führt zu höheren Steuereinnahmen. Martina Marx und Ralf Krombholz haben Datenbänke durchforstet, um nach Erfahrungen anderer Gastronomen zu fahnden. So stießen sie auf einen Fachbeitrag von Jens Reckendorf, der den Begriff „Programmierprotokolle“ aufspießt. Mit angeblich fehlenden Programmierprotokollen hatten die Betriebsprüfer begründet, dass sie die Buchführung im Humboldthain verwerfen und Umsatz hinzuschätzen. Jens Reckendorf schreibt zu diesen Programmierprotokollen: „Der Terminus zieht sich seit einigen Jahren so hartnäckig wie unreflektiert durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen, Urteilen und Betriebsprüfungen. Ein Zyniker würde sagen: Der beste Vorwand für Betriebsprüfer, um mit einer Schätzung zu drohen.“ 2015 war besonders ergiebig: Ex-Finanzminister Görke lobte im Februar 2017 „die sehr gute Qualität der Prüfungen“. Denn jeder der Brandenburger Betriebsprüfer habe im Jahr 2015 rund 480 000 Euro an Mehrsteuern festgestellt. Allein im Finanzamt Brandenburg seien 8,4 Millionen Euro Mehreinnahmen aufgrund von Prüfungen zusammengekommen. Diese Görke-Werte aus dem Jahr 2015 wurden in den Folgejahren nach offiziellen Angaben zunächst nicht mehr erreicht. Ingo Decker, Sprecher des Finanzministeriums in Potsdam, berichtet auf Anfrage, das Finanzamt Brandenburg habe in den Jahren zwischen 2016 und 2018 nach abgeschlossenen Betriebsprüfungen zwischen 4,4 und 5 Millionen Euro Mehreinnahmen pro Jahr erreicht. Knapp 440000 Euro pro Prüfer: 2019 meldet das Ministerium Aufwind, da waren es wieder 7,7 Millionen Euro – knapp 440 000 Euro pro Prüfer und somit nur etwas weniger als die von Görke bejubelten 480 000 Euro pro Brandenburger Betriebsprüfer. Eine dieser Betriebsprüfungen betraf Martina Marx. Es ging um die Steuerjahre 2011 bis 2014 und das genannte Lokal in Brandenburg/Havel. Der gesamte Vorgang bedeckt inzwischen mehr als 1000 Aktenseiten voller Zahlen und Buchstaben, nicht korrekten Bescheiden und Widersprüchen, Excel-Tabellen und Argumenten. Dem Ehepaar Marx/Krombholz ist klar, dass Finanzämter Geschäfte besonders genau kontrollieren, in denen oft mit Bargeld bezahlt wird. Gaststätten zum Beispiel, Friseursalon und Taxiunternehmen. Anfragen ans Finanzministerium: Die MAZ fragte das zuständige Finanzministerium in Potsdam, inwiefern vorrangig bargeldintensive Betriebe Kassenprüfungen unterzogen werden und wie viele Gaststättenbetriebe die Betriebsprüfer des Finanzamtes in Brandenburg/Havel durchschnittlich pro Jahr bearbeiten. Nach Auskunft Ministeriumssprecher Ingo Decker entscheidet die Finanzbehörde „nach pflichtgemäßem Ermessen“, ob und wann eine Außenprüfung durchgeführt wird. Dabei würden neben der Betriebsgröße auch Risikokriterien wie überwiegend bare Betriebseinnahmen berücksichtigt. „Statistische Aufzeichnungen über tatsächlich durchgeführte steuerliche Außenprüfungen bei Gaststättenbetrieben werden nicht geführt“, versichert Decker. Wenig bekannt über die Arbeit der Prüfer: Ebenso wenig erfasst das Finanzamt Brandenburg/Havel nach Deckers Angaben statistisch, in wie vielen Fällen die Steuerprüfer des Finanzamtes Brandenburg/Havel in den vergangenen Jahren die Buchführung insgesamt verworfen und Steuerzuschätzungen vorgenommen haben. Erkenntnisse darüber fehlen, wie viel Umsatz hinzu geschätzt haben. Keinerlei Erkenntnisse liegen vor über Gründe, warum Besteuerungsgrundlagen geändert werden und wie viele Betriebe des Behörden-Einzugsgebietes in den vergangenen Jahren Widersprüche gegen ihre Steuerbescheide eingelegt haben. Vier-Augen-Prinzip statt Controlling: Daraus ergibt sich, dass auch nichts darüber bekannt ist, in wie vielen Fällen das Finanzamt in Brandenburg/Havel solchen Widersprüchen in den vergangenen Jahren abgeholfen hat. Keine Antwort weiß das Ministerium auf die Frage, wie oft seine Behörde auf Widersprüche mit „Verböserungen“ reagiert hat, also noch einmal erhöhten Umsatz-Zuschätzungen. Ein internes Controlling scheint an diesem Punkt nicht vorgesehen in der Behörde. „Ein Controlling mit Kennzahlen, welche die Ergebnisse und Bestandskraft von Steuerprüfungen für ganz bestimmte Branchen aufzeichnen, besteht in der Tat nicht“, räumt Finanzministerium-Sprecher Ingo Decker ein. Sachgebietsleitung gibt Bescheide frei: In der Betriebsprüfung gilt nach seinen Angaben allerdings grundsätzlich ein Vier-Augen-Prinzip. Über den Fortgang einer Prüfung informieren die Prüfer ihre zuständige Sachgebietsleitung. Die Sachgebietsleitung zeichne den Schlussbericht einer Prüfung, der alle wesentlichen Ergebnisse enthält, und geben gegebenenfalls die Festsetzung geänderter Steuerbescheide frei. Schadensersatzklage: Marx und Krombholz fanden in ihrem Fall weder das Vier-Augen-Prinzip hilfreich, noch haben sie die vorgesetzte Beamtin der Betriebsprüfer als willig und in der Lage erlebt, sich mit Einwänden und Argumenten sachlich auseinanderzusetzen. Wie berichtet wollen die beiden Brandenburger gegen das Finanzamt auf Schadensersatz klagen. „Wir hatten hohe Kosten, um gegen alle Widerstände zu einem korrekten Steuerbescheid zu gelangen“, versichert Martina Marx. Von Jürgen Lauterbach