Wie die Mutigen über Brandenburg hinaus ein Gesicht bekommen

Acht seiner 90 Lebensjahre hat der Arzt Wolfgang Hardegen als Gefangener im „Gelben Elend“ von Bautzen verbracht. Die Zeit von 1947 bis 1955 in dem berüchtigten Gefängnis beschreibt das Opfer sowjetischer Justizwillkür in 17 Minuten. Der kurze preisgekrönte Film geht zurück auf die Initiative eines Vereins, der vor knapp zwei Jahren gegründet wurde und seinen Sitz in Brandenburg an der Havel hat. Vereinsgeschäftsführer ist Helmut Matthies (69). „Glaube, Mut & Freiheit in der DDR und danach“ heißt der Verein, dem sich der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck verbunden weiß. „Wir möchten die mutigen Frauen und Männern vor dem Vergessen bewahren, die als Christen in der SED-Diktatur Widerstand geleistet haben“, erklärt Helmut Matthies. Der Pfarrer, Theologe und Journalist hat Brandenburg/Havel vor etwa zwei Jahren zu seiner Wahlheimat gemacht. Er ist mit dem Umzug ein wenig auch zurückgekehrt zu seinen familiären Wurzeln im Havelland. Denn in Milow hatte er in seiner Kindheit die Ferien bei der Großmutter und den anderen Verwandten genossen. „Diese Wochen haben mich mehr geprägt als die Zeit im Westen“, sagt der wertkonservative Christ aus dem niedersächsischen Peine, der als Reisekorrespondent mit allen Bischöfen in der DDR Interviews geführt und den evangelischen Nachrichtendienst „idea“ fast 40 Jahre lang als Chefredakteur geprägt hat. Doch Helmut Matthies möchte bei aller Eloquenz nicht viel über sich reden, sondern den Verein und dessen Anliegen in den Blick rücken. Nach seinem Eindruck und dem seiner Mitstreiter wird 30 Jahre nach der Wende nicht ausreichend festgehalten, was Christen in der DDR bewirkt, wie sie beigetragen haben zum Erfolg der friedlichen Revolution 1989 und zum Neuanfang im wiedervereinigten Deutschland. Daran etwas zu ändern, das möchte der Verein mit Sitz in der Havelstadt. „Ich unterstützte diese großartige Initiative“, schreibt Joachim Gauck zum Geleit. Der frühere Bundespräsident freut sich besonders über die filmkünstlerisch aufbereiteten Interviews mit Zeitzeugen wie Ulrike Poppe, Vera Lengsfeld, Marianne Birthler, Rainer Eppelmann und vielen anderen. Auch Gauck selbst ist einer der ersten 40 Zeitzeugen, die in den etwa 15 Minuten langen Dokumentarfilmen aus ihrem Leben als Christen in der DDR erzählen – einige von ihnen an den Originalschauplätzen der sehr persönlichen und dabei doch so politischen Geschichten. Der Oberlausitzer Wolfgang Hardegen ist für seinen Filmbeitrag zurückgekehrt in die Haftzellen des „gelben Elends“ von Bautzen. An jenen Ort also, an dem er vor nun rund 70 Jahren überlebte, begleitet von der immer nahen Furcht, er werde in diesem Gefängnis sterben. Zu den Vereinsgründern gehörten im Juli 2018 nicht nur der Vorsitzende, Oberkirchenrat Harald Bretschneider, der das Symbol der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ erfunden hat. Auch der Pfarrer und einstige Brandenburger Minister Steffen Reiche, der 2018 verstorbene Dichter und Publizist Ulrich Schacht und Alexander Thies waren dabei. Alexander Thies hat nicht nur mit seiner Produktionsfirma NFP große Kinofilme wie „Luther“ und „Albert Schweitzer – ein Leben für Afrika“ geschaffen. Er ist kein Mitglied. Doch ihm und Henriette Gotaut sind die vom Verein beauftragten Interviewporträts zu verdanken, von denen der MDR schon zwanzig Kurzfilme ausgestrahlt hat. Der Verein „Glaube, Mut & Freiheit“ möchte mit den Filmen, aber auch mit Vorträgen, Schriften, Internet-Veröffentlichungen und Musik eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen und so die Erinnerung an den Widerstand und den Freiheitsglauben von Christen in der DDR wachhalten. Gern auch in Schulklassen. Aber warum ist ausgerechnet die Stadt Brandenburg an der Havel Vereinssitz geworden? Helmut Matthies hebt unmerklich eine Augenbraue, lächelt und sagt: „Weil die Geschäftsstelle meine Wohnung ist.“ Helmut Matthies wurde 1950 in Peine geboren, seine Eltern waren Gastwirte. Er studierte Theologe und Diakoniewissenschaften. Der ordinierte evangelische Pfarrer war von 1978 bis 2017 Chefredakteur der evangelikalen Nachrichtenagentur „idea“ im hessischen Wetzlar. Anschließend wurde er deren Vorsitzender. Seit 2018 lebt Helmut Matthies in Brandenburg/Havel. Er ist einige Monate nach dem Tod seiner Ehefrau dorthin gezogen. In seinem Buch „Gott kann auch anders“ berichtet der Journalist und Theologe über die Erfahrungen seines Lebens. Er gibt darin auch Einblicke, wie er den Tod seiner erst 61 Jahre alten Ehefrau erlebt hat. Doch natürlich ist das nicht der alleinige Grund. Matthies lobt die Stadt Cottbus für ihr Menschenrechtszentrum und Potsdam für ihre Gedenkstätte Leistikowstraße. Der Pfarrer und Journalist mag seine Wahlheimatstadt Brandenburg/Havel sehr. Doch in puncto Gedenken sieht er noch deutlich Luft nach oben. „3500 Gewissenshäftlinge haben im Brandenburger Gefängnis eingesessen und für sie gibt es nur den einen Gedenkraum auf dem Görden“, bedauert Helmut Matthies. Ihm ist zudem aufgefallen, dass die hiesige Touristeninformation keine Informationen über die DDR-Zeit bereithält. Von Jürgen Lauterbach

Brandenburg an der Havel - Wie die Mutigen über Brandenburg hinaus ein Gesicht bekommen