Corona-Ruhe BER und Flughafen Schönfeld: Wie Selchow die Zeit ohne Fluglärm genießt

Im Garten von Peter und Sabine Kinscher in Selchow steht eine Sitzecke, in deren Kissen man regelrecht versinkt. Peter Kinscher, einst Bauunternehmer, hat die Ecke so überdacht, dass man von der Sonne geschützt ist. Gleichzeitig sieht man von dort über das weitläufige, mit Bäumen und Büschen bestandene Gartenareal, man sieht das Vogelhäuschen, und den Swimmingpool, wo im Sommer das Wasser blau glitzert. Der Grill steht bereit, sogar einen Biertresen hat sich Peter Kinscher in den Garten gebaut. Es ist ein idyllisches Plätzchen. Und ruhig – zumindest seit zwei Monaten. „Herrlich“, sagt Sabine Kinscher. „So könnte es immer sein.“ Das ist freilich ein frommer Wunsch. Denn zur Idylle der Kinschers gehört auch der BER, der praktisch direkt hinter ihrer Hecke beginnt. Selchow liegt zwischen der Nord- und der Südbahn. Die Nordbahn endet rund 400 Meter vor Selchow. Die Südbahn führt auf der anderen Seite am Dorf vorbei. Seit Jahren hören die Kinschers deshalb in ihrem Garten alle paar Minuten das Aufheulen von Passagierflugzeugen, die in Sichtweite zum Start ansetzen. Oder das Dröhnen der Maschinen, die nach der Landung abbremsen. Je nach Wind hört man auch die Maschinen, die rechts am Ort vorbei einfliegen. Oder links am Ort vorbei. Und die Kleinflugzeuge, die manchmal über den Dächern eine Runde drehen. Früher waren die Flugzeuge lauter, heute sind es mehr: Das ist der Sound, der für sie alle dazu gehört. Viele, die im Ort aufgewachsen sind, kennen es gar nicht anders. „Man gewöhnt sich natürlich dran, und ab einem gewissen Alter hört man auch nicht mehr so gut“, sagt Peter Kinscher und lacht. Schon seit Beginn des vorigen Jahrhunderts wurde in Schönefeld geflogen. Mitte der sechziger Jahre wurde Schönefeld zum Verkehrsflughafen. Rund 20 Maschinen flogen täglich. Im Vergleich zu heute waren das nicht viele – aber sie waren lauter, weil erst warmlaufen mussten, erzählt man im Ort. Etwa ab 2003 nahmen die Flugbewegungen drastisch zu. Es flogen mehr und mehr und mehr. Wer sich mit Selchowern unterhält, der kommt deshalb schnell auf das Kerosin zu sprechen, das im Sommer auf dem Fischteich schillert. Auf Schallschutzfenster, die eingebaut werden sollen oder auch nicht. Auf Streitigkeiten mit der FBB. Und darauf, wie gut oder schlecht man schläft, wenn ab vier Uhr morgens Passagiermaschinen in der Nachbarschaft starten. „Selchow ist in einen Dornröschenschlaf gefallen“: Aber seit dem 15. März ist alles anders. Die Flugzeuge blieben am Boden. Kurz vor Selchow sieht man aufgereiht: Erst die Easyjet-Maschinen, dann die Ryan-Air-Maschinen, dann die Lufthansa-Maschinen, die inzwischen aus Tegel herübergeholt wurden. Alle sind perfekt geparkt – und geben keinen Mucks von sich. Es gab Tage in den vergangenen Wochen, an denen nur fünf Flieger Schönefeld verließen: drei nach London, zwei nach Bonn. Merkel soll auch zweimal gelandet sein. Ansonsten war plötzlich Frieden am Himmel. So etwas hatten die Selchower zuvor nur einmal gehabt: als der Vulkan Eyafjallajökull in Island vor zehn Jahren mit einem Lavastoß den Flugverkehr lahmlegte. Aber damals währte die Ruhe nur ein paar Tage. „Jetzt ist Selchow in einen Dornröschenschlaf gefallen“, sagt Ortsvorsteher Lutz Ribbecke. Ohne Fluglärm fühl sich Selchow an wie ein normales Dorf: Ribbecke ist ein Alteingesessener. Er war Bürgermeister in Selchow, als in den frühen Neunzigerjahren die Entscheidung fiel, dass der BER in Schönefeld gebaut wird. Er habe damals viele düstere Prophezeiungen gehört, erzählt er. Selchow sei zum Aussterben verurteilt. Selchow werde untergehen. Und ein bisschen sei es auch so. „Wir sind noch 170 Leute, die meisten über 60. Die Kinder ziehen weg. Selbst auf dem Friedhof könnte man Gemüse anbauen, weil dort kaum noch jemand begraben wird.“ Selchow sei ein Dorf ohne echte Zukunft, sagt Ribbecke. Aber jetzt gerade fühlt es sich anders an. Wie ein ganz normales Dorf. „Das ist total geil, wie das natürliche Leben“, sagt Ribbeckes Stellvertreter David Exner. Exner ist einer der wenigen im Ort mit kleinen Kindern. Sein Sohn kann kaum sprechen, aber Flugzeuge imitieren geht schon. Er habe sich in den letzten Monaten Freunde in den Garten eingeladen, erzählt Exner. Sie hätten dort gesessen, in den Himmel geschaut und die Stille genossen, die sich fast surreal anfühlte. „Und dann wird einem plötzlich bewusst, wie laut die S-Bahn eigentlich ist“, sagt Exner. Und dann sind da die Motorräder: Denn die wird gerade mal wieder getestet. Für den BER-Start, der nun im Oktober endlich über die Bühne gehen soll. Und dann – so fürchten alle im Ort – ist es mit der Ruhe ein für alle mal vorbei. Es gilt also: Genießen, so lange es geht. Die Kinschers verbringen deshalb so viel Zeit wie möglich im Garten. Sie fletzen sich auf die Sitzecke, dösen mittags auch mal ein. „Sonnenzeit ist Draußenzeit“, sagt Peter Kinscher. In diesem Moment knattert aus dem Hintergrund plötzlich ein Motorrad vorbei. Das Geräusch schwillt an, dann wieder ab. Die Straße, die das Grundstücks der Kinschers vom BER-Zaun trennt, ist kurvig und verkehrsarm. Motorradfahrer treffen sich dort oft, sie fahren die Straße hoch, kehren um, fahren sie wieder runter. Das Motorengeräusch wird wieder lauter. Peter Kinscher zieht die Augenbraue hoch, richtet seinen Blick durch seine Büsche in Richtung Flughafen, dorthin, wo das Motorrad gleich vorbeibrausen wird. „Die sind schlimmer als die Flugzeuge“, flucht er. Lesen Sie auch: Endgültige Freigabe für BER: Das sind die Stimmen aus der Flughafenregion Neue App: Mit diesem Simulator kann man den BER nachbauen Chillen und schlemmen in der Einflugschneise Von Oliver Fischer

Flughafen Schönefeld - Corona-Ruhe am BER: „Total geil, wie das natürliche Leben“