Schon als Kind von Büchern fasziniert

Lockte ihre Mitschüler vor allem die Konditorei mit Eis und leckerem Kuchen, so war es bei Annett Goldberg schon als Kind die Bibliothek. „Wir haben alle nur ein Leben. Aber nirgendwo erlebt man so viele Welten, so eine besondere Form von Freiheit, die einen im Denken und Handeln beflügelt, wie in Büchern“, sagt sie. Eine Faszination, die die Wildauer Bibliothekarin, die in diesem Monat ihr 30-jähriges Dienstjubiläum feiert, bis heute nicht loslässt. Schriftstellerin, Journalistin oder Bibliothekarin: Nach dem Abitur in Königs Wusterhausen gab es für sie beruflich daher nur drei Möglichkeiten: Schriftstellerin, Journalistin oder Bibliothekarin. Sie entschied sich für Letzteres und begann als Bibliothekshelferin in Köpenick, ehe sie an der Leipziger Fachschule für Bibliothekare und Buchhändler studierte. Mitten in den Wendewirren im Februar 1990 begann ihr Abschlusssemester an der damaligen KWer Kreis- und Stadtbibliothek. Dort angekommen, fragte sie die damalige Leiterin, ob sie nicht nach Wildau gehen könne. Dort bestehe ein personeller Engpass. Da schwang sich die damals 24-Jährige auf ihr Rennrad und begann wenige Minuten später ihren Dienst in der Wildauer Bibliothek, in der sie noch heute hinter dem Tresen steht. In der Wendezeit ins kalte Wasser gesprungen: In der Wendezeit blieb ihr keine Wahl, mit der Währungsreform im Juli 1990 rollten die ersten Entlassungswellen. Sie musste ins kalte Wasser springen, weil es nun keine zentrale Stadt- und Kreisbibliothek mehr gab, die bis dato die fachliche Aufsicht und den Einkauf regelte. Fortan war jede Gemeindebibliothek selbstständig und die junge Absolventin in Wildau sofort die Chefin. Zu ihrem „Reich“ gehörten nicht nur vier Teilzeitmitarbeiter, ein damals marodes Gebäude mit einem undichten Dach, sondern auch ein Bücherbestand, den mit dem Ende der DDR niemand mehr lesen wollte wie all die Bände des Marxismus-Leninismus oder die Heldenepen des Großen Vaterländischen Krieges. Verrückte Zeit: „Ehe wir einen neuen Bestand aufbauen konnten, lief der Entwertungsstempel für die alten Bücher förmlich heiß und die Papiercontainer quollen über“, denkt Annett Goldberg an diese verrückte Zeit zurück. Die neue Literatur sei anfangs immer sofort ausgeliehen gewesen, sodass die Leser bemängelten, dass noch immer nur „der alte Kram“ da sei. Annett Goldberg las damals beinahe Tag und Nacht. Schließlich musste sie sich in der neuen Bücherwelt selbst erst orientieren, um sachkundig entscheiden zu können, was in die Wildauer Regale Eingang findet und was nicht. Am Anfang waren bei den Lesern vor allem lockere Unterhaltungslektüre und bunte Zeitschriften, heute sind mehr und mehr anspruchsvolle Autoren wie Julia Franck, Dörte Hansen, Isabel Allende, Andrej Kurkow oder Carlos Ruiz Zafon gefragt. Seit 30 Jahren unverändert beliebt: Krimis: Eines aber hat sich Goldberg zufolge in 30 Jahren nicht geändert: Die Hitliste führen noch immer die Krimis an. Annett Goldberg ist kein bekennender Krimifan, dennoch berücksichtigt sie dieses Genre bei der Anschaffung der jährlich etwa 1000 neuen Titel für die Bibliothek natürlich. „Es ist für mich immer wie der Applaus bei einem Schauspieler, wenn sich Leser freuen, dass sie bei uns wieder ein tolles Buch oder einen tollen Film gefunden haben“, sagt Annett Goldberg. 22.000 Medien: Zumal die Bibliothek mit ihren knapp 22000 Medien ohnehin dem Wohnzimmer einer Stadt ähnelt. Hier kommen seit Jahrzehnten Menschen aller Generationen zusammen, da wird über die große und die kleine Politik, über Sport und selbstverständlich auch über viel Persönliches von der Hochzeit über die Scheidung bis zur Einsamkeit gesprochen. Annett Goldberg zufolge muss eine Bibliothekarin daher auch eine gute Zuhörerin sein und manchmal eben auch schweigen können. Aber hat sie in all den Jahren nie den Wunsch verspürt, mal in einer großen Bibliothek zu arbeiten? Die 54-Jährige beantwortet dies mit einem klaren „Nein“. Selbstverständlich sei es ein tolles Gefühl, im Lesesaal der Deutschen Bücherei in Leipzig oder in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar zu stehen, aber die Spezialisierung der Mitarbeiter sei ihr dort einfach zu groß. Jahrelang ausschließlich nur in der Titelaufnahme, im Archiv oder in der Ausleihe zu arbeiten, wäre nicht ihr Ding. „Wandelndes Lexikon“: Kerstin Nielsen, die mit Annett Goldberg seit 27 Jahren ein Team bildet, charakterisiert ihre Chefin vor allem „als ein wandelndes Lexikon“. Ihren ursprünglichen Berufswunsch Schriftstellerin erfüllt sich Annett Goldberg jetzt als Hobby, in dem sie Lyrik schreibt. Außerdem malt sie gern oder pusselt ein wenig in ihrem Garten in Zeesen. Ein Lieblingsbuch hat sie übrigens nicht. „Meist ist es das, in das ich mich gerade vertieft habe“, sagt sie lächelnd. Von Franziska Mohr

Wildau - Schon als Kind von Büchern fasziniert