Erinnerung an den Jercheler Dorfschullehrer Walter Volkmann

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten noch alle Dörfer in der Region ihre eigene Schule. In Jerchel erinnert man sich mit Respekt – aber gerne – an einen Mann, der von 1913 bis 1952 unterrichtete. Das war Walter Volkmann. Er wurde während des Kaiserreiches Lehrer, unterrichtete in der Zeit der Weimarer Republik und des Nazireiches, war in der Sowjetischen Besatzungszone und zu Beginn der DDR im Schuldienst. Es hatten sich also viele gesellschaftliche Veränderungen während seiner Dienstzeit ergeben, die Konstante war, er war der Lehrer für alle Jercheler Kinder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Walter Volkmann wurde 1888 in Parey an der Elbe geboren. Er besuchte das Lehrerseminar in Genthin und machte dort im Jahr 1909 seinen Abschluss. Erste die Stelle, dann die Heirat: Nach bestandener Prüfung trat er eine Stelle in Steinberg an. In der Nähe dieses Ortes lag die Eulenmühle bei Bücknitz, die seit 1882 der Familie Nuschenpickel gehörte. Walter Volkmann heiratete am 2. August 1913 die jüngste Tochter des Mühlenbesitzers. In einer Überlieferung heißt es, „das derjenige, der den Mühlbach, die Buckau, überspringt, die Tochter Luise Maria Olga Lisbeth zur Frau bekommt“. Da Volkmann ein sehr sportlicher junger Mann war, kam er trockenen Fußes über den Bach. Am 1. April 1913 trat er die Stelle als Dorfschullehrer in Jerchel im Elb-Havel-Winkel nahe der Havel an. Das Dörfchen hatte zu jener Zeit zusammen mit dem Gutsbezirk und dem zugehörigen Ort Marquede 368 Einwohner. 69 Schüler besuchten die im Jahre 1910 neu erbaute Dorfschule gegenüber der Kirche. Volkmann bezog gemeinsam mit seiner Frau die im Schulhaus vorhandene, aber wahrscheinlich noch sehr nasse Wohnung. Das nach Süden ausgerichtete Klassenzimmer verfügte über ein Lehrerpult, das auf einem die ganze Breite des Klassenraumes einnehmenden Podest stand, vor der breiten Tafel an der Westseite des Raumes. Die vier großen Fenster zeigten nach Süden. Viersitzige Schulbänke standen in zwei Reihen zu je sechs oder sieben Bänken hintereinander. In diesem Unterrichtsraum saßen oft mehr als 60 Kinder und sollten sich auf die Weisheiten des Lehrers konzentrieren. Ein für die 1. bis 8. Klasse: Disziplin und Strenge waren die Lösung. Außerdem weckte Volkmann auch das Interesse der Kinder am Unterrichtsstoff. Viele Exkursionen führten in die Umgebung des Dorfes. Die Geschichte der Heimat war ein ganz großes Thema. Einzelne Wanderungen verliefen zu Ausgrabungsstellen von Urnen und Grabstätten der in Vorzeiten hier ansässigen Völker. Als Naturfreund und Jäger brachte Walter Volkmann den Kindern auch die Fauna und Flora der Umgebung nahe. Im Unterricht musste der Lehrer in dieser Einraum-Dorfschule die Schüler der 1. bis 8. Klasse gleichzeitig und angemessen unterrichten. Die Klassenstufen wurden oft zu je zwei Abteilungen zusammengelegt. Die Abteilung I waren die Schüler der 7. und 8. Klassenstufe, Abteilung II die 5. und 6. Klasse und so weiter. Der Unterricht wurde dann so ausgelegt, dass die Schüler der Abteilungen zusammen lernen konnten. Dabei war es oft so, dass die Abteilung IV, also die 1. und 2. Klasse, erst zur zweiten Schulstunde mit dem Unterricht begann. Dadurch konnten die älteren Schüler morgens mit anspruchsvollen Aufgaben bedacht werden. Matheaufgaben nah am Alltagsleben: Beispiele für diese Form des Unterrichts gibt ein Bericht von Heinz Wollbrügge wieder, der die Dorfschule von 1939 bis 1947 besuchte. Er erzählt: „Aufgaben aus der Raumlehre wurden immer ziemlich praxisbezogen gestellt.“ Zum Beispiel: Eine Tonne für 600 Liter Wasser soll hergestellt werden. Wie viel Blech wird gebraucht? Ein Morgen Acker soll mit Rüben bepflanzt werden. Reihenabstand 50 Zentimeter, Pflanzenabstand in der Reihe 40 Zentimeter. Wie viele Pflanzen werden benötigt? Nach der morgendlichen Begrüßung wurde ein Volkslied gesungen. Und dann hieß es oftmals: „Abteilung I bis III, Diktat. Hefte austeilen!“ Ein Schüler rannte auf schnellstem Wege zum Hefteschrank, der neben der Tafel am Fenster stand und holte die dort gelagerten Diktathefte heraus und teilte diese an seine Mitschüler aus. Als er sich gesetzt hatte, diktierte Volkmann: „Abteilung I: Die Motoren eines Schiffes sind oft Dampfmaschinen, die aus Zylinder und Kolben in einem gusseisernen Gehäuse bestehen. Paul! Wiederholen!“ – Paul: „Die Motoren eines Schiffes sind oft Dampfmaschinen, die…“. – „Schreiben!“ Abteilung II: Auf unseren Feldern werden in diesem Jahr Roggen und Gerste angebaut. Maria! Wiederholen!“ Und so weiter. Alle Schüler der 3. bis 8. Klasse waren mit einem Diktat beschäftigt. Diktate für alle Altersklassen: Wenn der erste Schüler aus der Abteilung I mit Schreiben fertig war, wiederholte er den geschriebenen Satz und Volkmann setze das Diktat für diese Gruppe ohne Absatz fort. So ging das die ganze Unterrichtsstunde lang. Als alle fertig geschrieben hatten, wurden die Hefte eingesammelt und auf das Lehrerpult gelegt. Beeindruckend war, dass der Lehrer keinerlei schriftliche Vorbereitung hatte. Die Diktattexte hatte er alle im Kopf oder entwickelte sie beim Diktieren. Nach der Pause war laut lesen dran. In dieser Zeit korrigierte Lehrer Volkmann die Diktate und überwachte dabei die Schüler, indem er seinen Blick über die Kinder schweifen ließ. Und wehe, einer schaute zum Fenster raus oder schwatzte. Der war sofort mit laut Weiterlesen dran. Und wehe, er wusste nicht, wo weiterzulesen war. Dann erfolgte die Strafe auf dem Fuße. Die bestand in diesem Falle darin, dass der Schüler sich in die Zimmerecke neben der Tafel stellen musste. Das geschah dann meist unaufgefordert. Frau Volkmann beruhigte ihren Mann oft wieder: Eine wichtige Strafe bestand darin, dass der Lehrer die Tür aufriss und in den Flur schrie: „Alte!“, so nannte er seine Frau, die eine ganz liebe Person war und ihren Mann oft wieder auf den Boden holte, „Alte, komm mal her! Sieh dir mal diesen Burschen an, Der kann nicht mal eins und eins zusammenzählen und will schon in der 4. Klasse sein“. Frau Volkmann lächelte und Herr Volkmann hatte sich abgeregt. Eine weitere Strafe bei geringen Vergehen war die Nutzung des kleinen Rohrstockes, der sich in dem aufklappbaren Lehrerpult befand. Das tat gehörig weh. Und dann war da noch der etwa einen Meter lange Rohrstock aus dem langen Wandschrank, in dem sich auch die Unterrichtskarten befanden. Der war für die größeren Vergehen. Jährlich wurde ein Foto der Schüler gemacht. Die im Text abgebildeten Mädchen und Jungen wurden vor etwa 100 Jahren geboren. In den Kriegszeiten musste Lehrer Volkmann auch den Lehrer aus Nitzahn vertreten, der wohl oft krank war. Die Jercheler Schüler wurden mit Aufgaben für die letzte Unterrichtsstunde versehen, dann hieß es: „Alte, ich muss nach Nitzahn. Pass auf die Kinder auf.“ Und Frau Volkmann setzte sich in die Ecke des Klassenzimmers und achtete darauf, dass die Aufgaben erledigt wurden. Der Lehrer schnappte sich sein Fahrrad und fuhr in den Nachbarort und unterrichtete noch weitere vier Stunden die Nitzahner Schüler. Als Lehrer auch Erzieher in der Not: Der Lehrer hatte zusätzlich noch eine sehr wichtige Aufgabe. Da viele Männer im Krieg waren, verwilderten die Jugendlichen im Alter von 13, 14 Jahren etwas. Sie ließen sich nichts mehr vorschreiben, vor allem von ihren Müttern nicht. Diese wandten sich hilfesuchend an den Kanter und der unternahm etwas. Morgens nach der Begrüßung mussten die angezeigten Burschen vortreten und erhielten eine Standpauke vor der ganzen Schule. Das soll recht oft Wirkung gezeigt haben. Wer weiß wie lange? Bis zum Jahre 1952, also fast 40 Jahre, war Walter Volkmann Lehrer in Jerchel. Dann ging er in den wohlverdiente Ruhestand. Er musste die Dienstwohnung im Schulhaus verlassen und wohnte dann in einem Haus in der Stege. 1958 verstarb er und wurde auf dem Friedhof zu Jerchel beerdigt. Seine Frau folgte ihm 1964 nach. Quellen: Walter Volkmann, Chronik des Dorfes Jerchel; Gisela Volkmann, mündliche Überlieferungen; Heinz Wollbrügge, mündliche Überlieferungen; Mar“garete Giese, mündliche Überlieferungen. Von Gerd Dehnhardt