Besonderer Lieferservice: Bahnitzerin versorgt ihr Dorf in der Krise mit Lesestoff

Das Wetter lädt dieser Tage dazu ein, sich auf dem Sofa unter einer Decke zu verkriechen. Marlies Groß wagt sich dennoch vor die Tür und fährt selbst bei Graupelschauer mit dem Fahrrad durchs Dorf. Im Gepäck hat sie neuen Lesestoff, den sie treuen Lesern bringt. Seit fast 14 Jahren öffnet die 77-Jährige regelmäßig die kleine Bahnitzer Dorfbibliothek. Weil das aber seit Monaten nicht mehr möglich ist, liefert sie die Bücher nun bis zur Haustür. Das macht sie gern. Viel lieber wäre es ihr aber, wenn die Leser im neuen Bücherzimmer stöbern könnten. Vor wenigen Wochen ist die Bibliothek ins frisch sanierte Dorfgemeinschaftshaus eingezogen. Zuvor war sie in einem Raum im Gebäude der Kita untergebracht. Weil dieser aber für die Erweiterung der Einrichtung gebraucht wurde, musste Marlies Groß im März alle Bücher in Kisten packen. Noch mehr Platz für Lesestoff in Bahnitz: Im Dezember konnte sie die Kisten im neuen Zuhause endlich wieder auspacken. „Hier haben wir jetzt es etwas mehr Platz. Das heißt die Auswahl ist nun sogar etwas größer“, freut sich Marlies Groß. Gut 600 Bücher sowie DVDs für Kinder und Erwachsene stehen in den neuen Regalen, die die Ehrenamtlerin besorgt und der Ortsbeirat bezahlt hat. So sehr sich Marlies Groß über das neue Zuhause für die Bücher freut, dass nun wegen der Corona-Krise niemand kommen und sich Bücher ausleihen kann, findet sie sehr bedauerlich. Ganz auf Lesestoff müssen die Bahnitzer aber nicht verzichten. Denn jede Woche zieht Marlies Groß los, um treue Leser mit Nachschub zu versorgen. Die Übergabe erfolgt mit Abstand und kurzem Plausch an der Haustür. „Das ist vielleicht ein Service“, schwärmt Marianne Leyrer. Sie hat gerade das Buch „Trümmerkinder“ bekommen. Eine Empfehlung der ehrenamtlichen Bibliotheksleiterin. „Sie kennt meinen Geschmack und weiß, welche Bücher mir gefallen“, verrät Marianne Leyrer. Wie die anderen rund 20 treuen Leser aus Bahnitz und den umliegenden Dörfern ist auch sie sehr dankbar, dass Marlies Groß mit so viel Engagement die Einrichtung führt. Jeden ersten und zweiten Donnerstag im Monat von 16 bis 18 Uhr öffnet die ehrenamtliche Bibliothekarin normalerweise das Bücherzentrum im Dorf – und das seit vielen Jahren. Schon in den 1980er Jahren arbeitete Marlies Groß ehrenamtlich für die damalige Kreisbibliothek und leitete eine Außenstelle. „Allerdings hatten wir damals nur einen Schrank voll Bücher“, erinnert sie sich. Fast nur Stammleserinnen: 2007 suchte sie als Ruheständlerin nach einer Aufgabe und trug dazu bei, dass Bahnitz seither wieder eine Bibliothek hat. Bis auf ihren Mann gibt es allerdings nur noch Stammleserinnen. „Die Männer lassen sich höchstens mal ein Buch von ihrer Frau mitbringen", verrät Marlies Groß. Nachgelassen hat auch das Interesse der Kinder und Jugendlichen. Lediglich ein lesebegeisterter Junge ist derzeit Mitglied. Dabei hat Marlies Groß auch für die junge Generation jede Menge Lesestoff. Und was nicht da ist, kann bestellt werden. Alle vier Wochen fährt Marlies Groß nach Rathenow, um in der Kreisbibliothek Havelland neues Material zu besorgen. Wünsche ihrer Leser teilt sie der Leiterin, Martina Lenz, vorab mit. „Sie kümmert sich und besorgt auch ganz aktuelle Werke. Diese Zusammenarbeit ist wirklich wunderbar“, betont Marlies Groß. Bücher statt Netflix und Co: Sie selbst ist natürlich auch eine Leseratte. Über 100 Bücher verschlingt die Bahnitzerin jedes Jahr. Lesen gehört für die 77-Jährige einfach zum Alltag dazu, ganz besonders in diesen Zeiten, in denen das Leben in so vielen Bereichen stillsteht. Statt Filme und Serien auf Netflix und Co zu suchten, greift Marlies Groß zu Büchern. Und sie freut sich über jeden, der dieses Hobby mit ihr teilt und das Angebot der Dorfbibliothek nutzt. In den letzten Wochen sind sogar zwei neue Leser dazugekommen. Meist passiert das durch persönliche Empfehlungen. Dieses Mal durfte aber auch die Corona-Krise dazu beigetragen haben, dass die Suche nach einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung mit einer Anmeldung in der Dorfbibliothek endete. Familiengeschichten sind beliebt: Und welche Stoff ist bei den Bahnitzern besonders beliebt? „Zur Zeit sind das historische Romane und Familiengeschichten. Das Interesse an Krimis hat dagegen etwas nachgelassen“, weiß Marlies Groß. Auch nach fast 14 Jahren bereitet ihr dieses Ehrenamt viel Freude. Dank der Bibliothek hat sie eine Aufgabe, von der das ganze Dorf profitieren kann. Und dann gibt es noch den Dank der Stammleser, über den sich Marlies Groß freut. Von Christin Schmidt

Bücher statt Netflix und Co – Bahnitzerin liefert Lesestoff