Run aufs Rad: Rathenow erlebt einen Fahrradboom

Der Drang nach Freiheit und frischer Luft verbreitet sich im Lande. Doch das Corona-Virus hat auch die Westhavelländer fest in der Hand, die Urlaubsmöglichkeiten sind noch immer eingeschränkt. Aber die Rathenower machen es sich dennoch schön in diesen schwierigen Zeiten. Lange genug wurde zuhause auf dem Sofa herumgesessen. Jetzt heißt es, sich für ein Abenteuer in der Natur zu wappnen. Das spült die Kunden in die Outdoor-Geschäfte und Fahrradläden. Schlangen vor den Radgeschäften: Auch in Rathenow stehen die Menschen vor den Radgeschäften Schlange. „Das ist kein einmaliger Ausreißer, das ist ein Boom“, erzählt Sven Wienmeister, Inhaber des Radladens „Wienmeister – die Fahrradmeister“. Seit knapp 18 Jahren betreibt Sven Wienmeister den Fahrradladen und die dazugehörige Werkstatt in Rathenow. Aber solch einen Ansturm hat er selbst nach einem dunklen Winter nicht erlebt. Obwohl der Andrang groß ist, lässt er sich nicht hetzen. „Ich nehme mir für jeden Kunden die Zeit, die es braucht. Und das kann schon mal dazu führen, dass die Leute hier Schlange stehen wie zu DDR-Zeiten für eine Banane“, berichtet er. In der Branche gibt es ungeschriebene Gesetze: Wenn nach dem Winter die Sonne rauskommt und der Schnee schmilzt, ist der Funke für die Fahrradsaison gezündet. Die Menschen haben einen Bewegungsdrang. Doch zum diesjährigen Saisonauftakt blieben die Ladentüren geschlossen. Ab dem 18. März musste Wienmeister – wie alle Einzelhändler der Innenstadt – seine Geschäfte ruhen lassen. Mehr als einen Monat lang. Neustart am 22. April: Am 22. April dann gab der Zweirad Innungsverband den Startschuss für die Wiedereröffnung der Läden. Seither gab es keine wirkliche Verschnaufpause für die Fahrradmeister. Von morgens bis abends kommt ein Kunde nach dem anderen hinein. „Die Zeitspanne des letzten Quartals hat eine rasante ansteigende Kurve genommen. Aber für mich geht ein Geschäftsjahr immer vom 1. Januar bis zum 31. Dezember“, so Wienmeister. Man müsse abwarten, wie es nach der Welle weitergeht. Schwierigkeiten bei Materialbeschaffung: „Die größte Herausforderung ist momentan die Materialbeschaffung“, so Wienmeister. Die Lager der Lieferanten sind leer. Nun kommen die negativen Begleiterscheinungen einer globalen Lieferstruktur zum Tragen. „Wenn irgendwo ein Zulieferer ausfällt oder zwei, drei Monate nicht produzieren kann, summiert sich das auf.“ Er wisse von Herstellern, die ihre 2021-Räder jetzt schon auf den Markt werfen. „Die ziehen vor, was technisch möglich ist.“ Als Inhaber müsse er die rasanten Entwicklungen permanent im Blick behalten. Elektroräder sind der Renner: Es sind die klassischen Kreuzfahrttouristen und Auslandsfans, die in diesem Jahr das eigene Land bereisen. Oft werden E-Bikes gekauft, und nicht selten paarweise. „Die sind wie im vergangenen Jahr die Renner der Saison“, so Wienmeister. Er müsse immer ein bisschen schmunzeln, wenn die Autoindustrie von 142.000 Elektrofahrzeugen auf den Straßen spreche. „Das verkaufen die deutschen Fahrradhändler während der Corona-Zeit wahrscheinlich in einem Monat.“ 7,5 Millionen E-Bikes sind auf deutschen Straßen unterwegs. „Ich finde es toll, dass das Fahrrad in der Corona-Krise einen ganz anderen Stellenwert bekommt“, sagt der Spezialist. Und die aktuellen Bilder geben ihm recht. Nicht nur die Radwege im Westhavelland sind voll. Auch andere Regionen, wie etwa die Ostsee, haben sich als Mekka der Fahrradbegeisterten entpuppt. Arbeiten bis zum Anschlag: Für die Fahrradhändler und -monteure heißt das freilich: Arbeiten bis zum Rande des Machbaren. Gerade für kleine Unternehmen mit einem großen Angebot wie Wienmeister es bietet, ist es eine große Herausforderung den Andrang zu bewältigen. Die Menschen stürmen das Geschäft. Sie wollen kaufen, sie wollen leihen, sie wollen ihre Räder reparieren lassen. Das kann für den Händler schon mal stressig werden. Dankbare Kunden: Sven Wienmeister fällt auf, dass die Kunden dankbarer geworden sind. „Es gibt auch mal ein Paket Kaffee oder Schokolade, wenn schnell weitergeholfen werden konnte“, sagt er. Denn was nützt das tollste Velo, wenn es keiner reparieren kann. „Das ist auch die große Herausforderung der nächsten Jahre“, schätzt der Experte. „Dass man fähiges Personal in der Werkstatt hat. Damit das, was draußen rumfährt, auch weiterhin rumfahren kann.“ Beim Schutz vor Corona kennt Wienmeister übrigens kein Pardon: „Ich weise alle Kunden nett daraufhin, dass sie eine Maske tragen sollen.“ Und weil der Laden klein ist, wird nur mit Einzelabfertigung gearbeitet. „Ein Kunde im Laden. Erst wenn der raus ist, darf der Nächste eintreten“ Infrastruktur muss angepasst werden: Wienmeister wünscht sich, dass das Fahrradfahren nicht bloß ein Trend bleibt. Daher plädiert er für den Ausbau der Infrastruktur gerade auch im ländlichen Raum. „Und damit es nicht zu einem Straßenkampf zwischen Fahrradfahrer und Autofahrer kommt, wie in vielen Großstädten erkennbar, müssen vernünftige ausgebaute und gut strukturierte Radwege her“, sagt er. Von Mariella Doblhofer