Frauenhaus Oberhavel: Wenn Corona-Stress zu Gewalt führt

Auf konstant hohem Niveau bewegen sich derzeit die Beratungs- und Belegungszahlen des Frauenhauses Oberhavel, das im weitläufigen Stadtgebiet von Oranienburg angesiedelt ist, berichtet Antje Culmsee, Fachbereichsleiterin Frauenhaus und Frauenberatung vom Märkischen Sozialverein (MSV. Der Verein betreibt die Zufluchtsstelle für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder, die aus Landes- und Landkreismitteln finanziert wird. Trotz der coronabedingt anhaltend schwierigen Situation für alle Familien seien die Beratungszahlen bislang jedoch nicht auffällig angestiegen. Vielmehr seien sie auch vorher bereits konstant hoch gewesen. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey hatte im Verlauf der Corona-Pandemie Anfang April gewarnt, dass gerade für Familien, die auf sehr engem Raum zusammenleben, die Situation eine große Bewährungsprobe sei. Vor allem in Städten würden verstärkt Fälle von häuslicher Gewalt drohen. Lesen Sie auch: Nonnemacher: Bei häuslichen Konflikten schnell handeln Giffey wies jedoch auch darauf hin, dass es offensichtlich ein Stadt-Land-Gefälle gebe, es in ländlich geprägten Regionen weniger derart gelagerte Fälle gebe. In Berlin seien die Anzeigen zu häuslicher Gewalt um zehn Prozent gestiegen, hatte die Bundesfamilienministerin berichtet. Zahlen, die Antje Culmsee für den Landkreis Oberhavel nicht bestätigen kann und die der Annahme des Bundesfamilienministerium Recht geben, nach der die Problematik in ländlichen Regionen anders gelagert sei. Wo es mehr Möglichkeiten gebe, raus zu gehen und wo Menschen nicht so sehr auf engem Raum lebten, sei das Konfliktpotenzial nicht so hoch, hatte Giffey gesagt. Frauenberatungsstelle für Notfälle 24 Stunden am Tag erreichbar: Das – krisenerprobte – Team der Frauenberatung für den Landkreis Oberhavel hat sich in den vergangenen Wochen den coronabedingten Einschränkungen angepasst. „Wir erhalten unser Unterstützungsangebot gerade in dieser Zeit voll umfänglich aufrecht und reagieren auf den Bedarf“, berichtet Antje Culmsee. Ihr Team berate betroffene Frauen momentan vorrangig telefonisch oder per E-Mail. Die Sprechzeiten der Frauenberatungsstelle gelten dennoch nach wie vor (siehe Infobox). Nach Terminvereinbarungen werden inzwischen Frauen auch wieder vor Ort individuell beraten – unter Wahrung der Hygiene- und Abstandsregelungen, so Culmsee. Ein 24-Stunden-Bereitschaftsdienst ist – so wie auch außerhalb der Coronazeit – jederzeit erreichbar. Die Nummer (0800/664 80 45) stehe täglich in allen lokalen Zeitungen und könne auch für Beratungsgespräche, Kriseninterventionen, Terminabsprachen und Frauenhausaufnahmen genutzt werden. Um Betroffene zu erreichen, informiert der Verein verstärkt und ständig über sein Beratungsangebot, auch über die sozialen Medien. Erste Hilfe geben beispielsweise sogenannte Handlungsempfehlungen beim Wahrnehmen von Gewaltsituationen in der Nachbarschaft, die immer wieder veröffentlicht werden. Deutlich stärkere Zusammenarbeit mit der Polizei: Dass sich die in der Öffentlichkeit befürchtete „dramatische Zuspitzung der Situation in den Frauenhäusern“ für Oberhavel bislang noch nicht in den Auslastungszahlen widerspiegele, ist indes kein Zeichen zum Zurücklehnen. Denn einen Anstieg der Zusammenarbeit mit der Polizei in Fällen von Hilfe des Gewaltschutzgesetzes seit dem Coronaausbruch hat Culmsee schon notiert. Das Gesetz ermöglicht Frauen und ihren Kindern, in der gewohnten Umgebung bleiben zu können, während gewalttätige Partner des Wohnraums verwiesen werden können. „Eventuell herrscht für unser Projekt momentan noch „die Ruhe vor dem Sturm“ und die gewaltbetroffenen Frauen haben erst jetzt mit zunehmender Lockerung der Corona-Maßnahmen überhaupt die Möglichkeit, sich Hilfe zu suchen“, sagt Antje Culmsee. So gelang es möglicherweise Opfern häuslicher Gewalt in den zurückliegenden Wochen mit Kontaktsperren, Quarantäne, geschlossenen Schulen und Kindergärten gar nicht oder nur schwer, Hilfe zu holen. Sorge um betroffene Kinder besonders groß: Die Auslöser für Gewaltausbrüche in den eigenen vier Wänden sind vielfältig. Die Corona-Pandemie verstärkt sie indes: So kann durch die Quarantäne-Situation, das ununterbrochene, enge Miteinander, die Einschränkung sozialer Kontakte und auch durch finanzielle Sorgen zusätzlicher Stress entstehen, der häusliche Gewalt auslösen oder verschlimmern kann. Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen können Betroffene ihre Situation jedoch mitunter nur schwer kommunizieren. Antje Culmsee sorgt sich insbesondere um die Situation betroffener Kinder. „Das ist für mich gegenwärtig besorgniserregend“, sagt sie nachdenklich, vor allem „bei beengten Wohnverhältnissen, bei anhaltender Überlastung, zunehmenden Existenzängsten der Eltern oder fehlender professioneller Kinderbetreuung in Problemfamilien“. Mehr denn je seien Kinder momentan auf die Erwachsenen im eigenen Haushalt angewiesen, da trotz langsamer Lockerungen „noch weniger Kitas, Schulen, Sportvereine oder sonstige Außenstehende ihre eventuelle Notlagen und ihren Hilfebedarf erkennen können“. Situation im Frauenhaus Oberhavel „ist momentan stabil“: Das Frauenhaus Oberhavel beherbergt derzeit zehn Frauen und fünf Kinder. Seit Januar habe es bislang 34 Vorsorgeaktivitäten gegeben, elf weitere Fälle, in denen proaktiv gehandelt worden sei sowie zwölf Nachsorgefälle. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 wurden insgesamt 15 Frauen und 18 Kinder, 2018 insgesamt 19 Frauen und 20 Kinder im Frauenhaus aufgenommen. „Die Situation in unserem Frauenhaus ist momentan stabil“, sagt Culmsee. Alle Bewohner seien gut versorgt und gesund. Anfang Mai sei eine Frau aus Oranienburg neu aufgenommen worden. „Seit Inkrafttreten der weitreichenden Corona-Beschränkungen Mitte März war dies die erste Aufnahme“, bilanziert die Fachbereichsleiterin. Vielen anderen Betroffenen habe zudem in dieser Zeit durch Beratung und telefonische Krisenintervention geholfen werden können. Eine Erhöhung der Platzkapazitäten des Frauenhauses, wie es von einigen anderen Landkreisen organisiert worden sei, „war bisher in Oberhavel nicht nötig, da wir immer noch Aufnahmekapazitäten haben“. Frauenhäuser in Brandenburg gehören zu kritischer Infrastruktur: Trotz bislang in Oberhavel ausbleibenden steigenden Zahlen steht die Problematik häuslicher Gewalt auch im Fokus des in Potsdam angesiedelten Corona-Krisenstabs des Landes Brandenburg. „Als Teil der kritischen Infrastruktur sind die Frauenhäuser seit März eines der Themen im wöchentlichen Krisenstab“, berichtet Antje Culmsee. Ihre Einrichtung arbeitet wöchentlich einen Situationsbericht zu, in dem unter anderem die Auslastungszahlen und die Notwendigkeit alternativer Unterbringungsmöglichkeiten abgefragt werden. Erkennbar sei aus diesen Reports, dass sich „im Land die Frauenhaus-Belegungen und der Beratungsbedarf überall auf normal hohem Niveau bewegt“, weiß Culmsee zu berichten. Intensiver Austausch mit Beratungsangeboten in der Region: Das Frauenhaus in Oranienburg ist somit gegenwärtig gut aufgestellt. Im Vorfeld „haben auch wir viel darüber gelesen, dass durch das Zusammensperren von Familien unter Pandemie-Bedingungen die häusliche Gewalt beziehungsweise die Partnerschaftsgewalt eklatant zunehmen wird“, erinnert sich Culmsee vor allem an „Erfahrungswerte aus China und das restliche Asien. Das klang plausibel, scheint bei uns aber eher zeitverzögert anzukommen“. Vorbeugend sei sie aus diesem Grund im ständigen Kontakt zu anderen Beratungsangeboten der Region. Zudem werde regelmäßig das Gespräch zu ehemaligen Frauenhaus-Bewohnerinnen und Frauen aus der Vorsorge gesucht, um gegebenenfalls schnell reagieren zu können und eventuelle Opfer besser zu erreichen. Der Märkische Sozialverein (Liebigstraße 4 in Oranienburg) ist Träger des Frauenhauses Oberhavel. Sprechzeiten der Frauenberatungsstelle sind Montag 14 bis 18 Uhr, Dienstag 9 bis 13 Uhr, Donnerstag 12 bis 16 Uhr. Telefonisch ist die Beratungsstelle unter der 03301-6896950 erreichbar. Zudem ist die kostenfreie Notfallnummer 24 Stunden am Tag für betroffene Frauen, deren Angehörige und die Polizei unter der 0800/664 80 45 erreichbar. Das Frauenhaus befindet sich im weitläufigen Stadtgebiet Oranienburgs. Die konkrete Adresse wird aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht. Die Beratungsstelle unterliegt der Schweigepflicht und berät auch anonym. Häusliche Gewalt umfasst alle Formen psychischer, physischer, sexueller, sozialer, emotionaler und ökonomischer Gewalt zwischen Menschen, die in nahen Beziehungen zueinander stehen oder gestanden haben. Auch Stalking zählt zur häuslichen Gewalt. Von Nadine Bieneck

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