Friedenshort in Heiligengrabe meistert die Corona-Krise

Wer in seiner Kindheit im Ferienlager war, kennt das beklemmende Gefühl von Heimweh. Doch spätestens nach drei Wochen endete diese Zeit und die Kinder konnten ihre Eltern wiedersehen und Nähe erleben. Wie aber fühlt es sich an, drei Monate von seiner Familie getrennt zu sein? In der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort in Heiligengrabe standen Einrichtungsleiter Stephan Drüen und seine mehr als 80 Mitarbeiter seit Mitte März vor genau diesen Herausforderungen. Dort betreuen sie stationär 75 Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung aller Altersklassen. Hinzu kommen 20 Senioren im „Haus Friede.“ Die Corona-Krise brachte viele Einschränkungen im Alltag mit sich: die Kontaktsperren und das Wegbrechen der Tagesstruktur waren die größten Hürden. Lichtblicke und Lockerungen: Seit Anfang Mai gibt es Lichtblicke: Die Schulen öffneten und ermöglichten einen eingeschränkten Unterricht. Besuche sind im Seniorenheim seit Mitte Mai in einem Besucherzimmer möglich. Die Werkstätten haben am 30. Juni ihre Notbetreuung beendet; auch dort wird der Alltagsbetrieb wieder hochgefahren. Mitarbeiter, die zu den Corona-Risikogruppen gehören, dürfen nach wie vor nicht in die Werkstätten. Kinder und Erwachsene im Friedenshort empfangen wieder Besuch oder fahren für einige Tage nach Hause. „Das wird genau dokumentiert. Jeder muss symptomfrei sein, wenn er wiederkehrt“, sagt Stephan Drüen. Langzeitfolgen nicht absehbar: „Die Corona-Krise war eine Herausforderung über Monate, bei der wir mit Augenmaß und Einfühlungsvermögen vorgegangen sind“, sagt Stephan Drüen. Diese Zeit komme einem Marathonlauf gleich, bei dem niemand weiß, wann einen die Kräfte verlassen. Drüen sieht, dass seine Mitarbeiter erschöpft sind. Zugleich ist er dankbar, dass alle durchgehalten haben. „Mit viel Kreativität sind sie über ihre Schatten gesprungen und haben auch in anderen Bereichen gearbeitet. Das ist ein tolles Team“, sagt Stephan Drüen. Dennoch ist es aus seiner Sicht zu früh zu sagen, wie sich diese Dauerbelastung auf sie ausgewirkt hat. Corona-Krise führt zu psychischer Ausnahmesituation: Denn immer wieder ging es darum, die Bewohner emotional während der Kontaktsperren zu stabilisieren. Im Einzelfall durften vier Teenager und Erwachsene während dieser Zeit Besuch empfangen. Das war notwendig, um sie psychisch zu stabilisieren. Ein Erwachsener befindet sich wegen Depressionen seit zwei Monaten in stationärer Behandlung. „Das ist auf die Corona-Krise zurückzuführen“, sagt Stephan Drüen. Abstandsregeln sind unmenschlich: „Wie geht man damit um, wenn Kinder ihre Eltern nach drei Monaten wiedersehen, wie bremst man sie ab, um den Abstand einzuhalten? Das sind unmenschliche Situationen“, sagt Matthias Fickler, Erzieher und Autismusfachberater. Er ist im Haus „Sonnenland“ tätig und seit Ende vergangenen Jahres dort Hausleiter. Im „Sonnenland“ werden zwölf geistig und schwerst mehrfach behinderte sowie autistische Kinder und Jugendliche zwischen sieben und 19 Jahren stationär betreut. Einzelfallhelfer entlasten Mitarbeiter im Haus „Sonnenland“: Entspannung gibt es im „Sonnenland“ seit Anfang Mai. Drei Einzelfallhelfer der Arbeiterwohlfahrt (Awo) kamen in das Haus und begleiteten nun den Alltag. Damit erlebten die eigenen Mitarbeiter eine Entlastung. Positiver Nebeneffekt: Die Einzelfallhelfer lernten ihre Klienten von einer anderen Seite kennen. Hinzu kam ein kollegiales Kennenlernen zwischen den Schulhelfern und Mitarbeitern. „Das hat den Horizont gegenseitig erweitert“, sagt Matthias Fickler. Nun ist es schwierig, dass alle Bewohner auch in Woche elf und zwölf der Corona-Krise immer auf den Abstand achten. Demenzkranke im Seniorenheim sind zusätzlich irritiert: Axel Bohle ist seit elf Jahren Pflegedienstleiter im „Haus Friede“ und sorgt sich dort mit seinen Kollegen um das Wohl der Senioren. Im Friedenshort ist die Maskenpflicht für die Mitarbeiter aufgehoben, Bohle trägt sie nach wie vor: „Die stört mich gar nicht und schützt die Senioren.“ Vor allem Demenzkranken sind die Corona-Krise und der damit verbundene Abstand schwierig zu vermitteln. Auch der Mund-Nasen-Schutz der Mitarbeiter irritiert diese Senioren. Abschied nehmen war auch während der Kontaktsperren möglich: „Bewohner, die geistig klar sind, haben verständnisvoll auf die Einschränkungen reagiert, aber konnten nicht verstehen, warum nur der Profifußball seit Mai wieder möglich ist“, sagt Bohle. Zwei Bewohner im Seniorenheim starben während der Zeit der Kontaktsperren. „Wir haben es den Angehörigen dennoch ermöglicht, Abschied zu nehmen“, sagt Axel Bohle. Dies gehört auch zum Leitbild in der Diakonie. Besucherzimmer steht zur Verfügung: Seit Ende März konnten Besucher am Fenster des Seniorenheimes Kontakt zu ihren Angehörigen aufnehmen. Seit Mitte Mai gibt es dort ein Besucherzimmer. Bei den Demenzkranken ist es wichtig, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung, also in ihrem Zimmer, Besuch empfangen. Auch das machen die Mitarbeiter möglich. Spielverderber und Buhmann: Der Einrichtungsleiter fühlt sich seit Monaten als „Spielverderber und Buhmann.“ Denn er muss alle Corona-Einschränkungen kommunizieren und verantworten. Doch Axel Bohle widerspricht: „Das war notwendig, die Lasten sind verteilt und es ist ein guter Informationsfluss in alle Bereiche.“ Die Corona-Krise stärkt das Wir-Gefühl: Dennoch blickt Stephan Drüen optimistisch nach vorn. „Unsere Einrichtung ist gut aufgestellt, wir handeln transparent und haben eine gute Außenwirkung. Das Wir-Gefühl im Friedenshort ist wichtig, die Mitarbeiter sehen nicht nur ihre Gruppe, sondern die Einrichtung.“ Stephan Drüen hofft, dass die kirchlichen Hochfeste wie Erntedank und Advent in irgendeiner Form möglich werden. Bisher fielen alle Andachten wegen des Coronavirus aus. „Wir planen einmal im Monat Hofandachten, das muss mit Augenmaß entschieden werden.“ Er ist froh, dass derzeit eine stabile Situation besteht und sieht in der Schulöffnung und dem Werkstattbetrieb eine Entlastung für den Friedenshort. Von Christamaria Ruch