Gefährliche Munition im Wald bei Neuruppin

Der Schock sitzt. Eigentlich wollte der Mann sich mit seinem Fahrrad nur eine Abkürzung durchs Unterholz im Wald nördlich von Neuruppin suchen. Plötzlich, nach ein paar hundert Metern Gestrüpp und Brennnesseln, sieht er die Granaten auf dem Boden liegen. Eine direkt vor ihm, zwei unter dem nächsten Baum, ein paar Meter weiter gleich einen ganzen Haufen. Das ganze Waldstück unweit von Gentzrode scheint voller Munition. Ob sie scharf sind? Der ahnungslose Spaziergänger weiß es nicht. Gerd Fleischhauer vom Kampfmittelbeseitigungsdienst der Polizei gibt Entwarnung, als er kurz darauf den ersten Fund sieht. „Das hier ist Übungsmunition“, sagt er. Tatsächlich handelt es sich um täuschend echt aussehende Geschosse aus einer sowjetischen Panzerfaust. Die haben die Soldaten auf dem Übungsplatz im Norden der Stadt bis zur Wende zu Hunderten abgeschossen und oft einfach liegen lassen. Die Granaten, die mit der Waffe verschossen wurden, tragen vorn einen schwarzen Kopf aus schwarz lackierte Aluminium, der in der Mitte etwas verdickt ist. Hinten ragt ein Aluminiumstab heraus, um den die Ladung angebracht war, die die Granate wie eine Rakete vorantreibt. Der eigentliche Sprengkopf enthält bei den Übungsgranaten nur Beton statt echtem Sprengstoff. Für Laien ist das aber kaum zu erkennen. Berge solcher Geschosse liegen noch im Wald, ganz besonders dort, wo der Wanderer sie jetzt gefunden hat. Fleischhauer und seine Kollegen wissen das seit Jahren. Auch die alte Übungsmunition wird eingesammelt: „Wir sammeln immer wieder welche ein, wenn jemand einen Fund meldet“, sagt der erfahrene Munitionsfachmann. „Eigentlich müsste man die Flächen großräumig absuchen.“ Doch dafür müsste der Eigentümer sorgen. Für viele ist das unbezahlbar, und so unternehmen sie gar nichts. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst kann nur aktiv werden, wenn er eine offizielle Suche begleitet oder wenn tatsächlich ein Fund gemeldet wird. Fleischhauer und seine beiden Kollegen aus Neuruppin in für alle Munitionsfunde in den Kreisen Ostprignitz-Ruppin und Prignitz zuständig. Das Land Brandenburg gilt bis als die Region in Deutschland mit der meisten Fundmunition. Insgesamt gelten rund 350.000 Hektar als belastet – zwölf Prozent der gesamten Landesfläche. Besonders betroffen sind dabei die Landkreise östlich von Berlin. Als Schwerpunkt gelten auch die Städte Oranienburg, Brandenburg, Cottbus und Neuruppin sowie die Regionen rundherum. Wer Granaten, Minen, Raketen oder andere Munition entdeckt, sollte sie auf keinen Fall berühren oder bewegen, sondern den Fundort markieren, eventuell absperren und den Notruf der Polizei 110 wählen. „Im Schnitt werden uns etwa 120 bis 150 Einzelfunde im Jahr gemeldet“, sagt der Truppführer. 2020 könnten es besonders viele werden. Vielleicht weil wegen der Coronakrise mehr Menschen im Wald spazieren gehen? Bis Mai mussten die Kampfmittelfachleute der Polizei im Nordwesten des Landes jedenfalls schon 50-mal ausrücken. Nicht mitgezählt die vielen Fälle, in denen Spezialfirmen bei der gezielten Suche auf verdächtigen Flächen etwas finden. Etwa in der Kyritz-Ruppiner Heide, wo Fleischhauer oft mehrmals in der Woche Fundmunition begutachten muss. Über Granaten, Patronen und Waffen aller Art stolpern Spaziergänger in den Wäldern rund um Neuruppin immer wieder. Längst nicht alle sind harmlos. Viele sind auch nach Jahren im Boden noch scharf und hoch gefährlich. Hinterlassenschaft der deutschen und der russischen Armee bei Neuruppin: Manches stammt – wie die Funde jetzt – von der Sowjetarmee. Anderes haben deutsche Soldaten am Ende des Zweiten Weltkriegs verloren oder absichtlich weggeworfen. Hierzulande gab es zwar keine großen Kämpfe. Aber in den Wäldern zwischen Neuruppin, Lindow und Rheinsberg hatte sich in den letzten Kriegstagen verschiedene Einheiten der deutschen Wehrmacht und der SS gesammelt, die den Befehl hatten, einen Keil in die nach Westen vorrückende sowjetische Armee zu schlagen. Diese Einheiten waren über große Flächen verteilt und zogen später nach Norden. Wo sie durchkamen und vorübergehend lagerten, finden sich auch 75 Jahren nach dem Kriegsende noch jede Menge Hinterlassenschaften inklusive Waffen und Munition. Lesen Sie auch: Blindgänger: 276 Tonnen Kampfmittel wurden 2019 in Brandenburg geräumt 75 Jahre Kriegsende: Warum Neuruppin am 1. Mai 1945 kampflos an die Rote Armee übergeben wurde Munition im Ruppiner See Von Reyk Grunow

Ostprignitz-Ruppin - Munition bei Neuruppin: Zufallsfund im Wald