Jugendpsychologe Tom Keipert aus Wittstock über Auswirkungen von Corona

Die Corona-Krise mit ihren Schließungen und Öffnungen von Kitas und Schulen; den ständigen Einschränkungen, dem Abstandhalten und Zuhausebleiben belastet die Menschen – und ganz besonders die Kinder und Jugendlichen. Ihr Schulalltag und ihr Leben haben sich stark verändert. Wie kommen junge Menschen damit klar? Tom Keipert ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Wittstock und Neuruppin. Im MAZ-Interview spricht er über seine Erfahrungen. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Ihre Arbeit aus? An das Desinfizieren, das Lüften und die Abstände habe ich mich gewöhnt. Die Patienten verhalten sich alle sehr vorschriftsmäßig. Das finde ich gut. Schon wer einen kleinen Schnupfen hat, teilt mir das mit. Ich habe hier noch nie einen Patienten mit Corona-Symptomen gehabt. Wenn Familien in Quarantäne sind, kann ich aber auch auf Videokonferenzen ausweichen. Aber das ist sicher nicht das gleiche. Das stimmt, aber wenn ich die Betroffenen und die Familien schon kenne, dann ist der Unterschied nicht so groß, auch wenn mir da natürlich einige Kommunikationskanäle fehlen. Wenn es um echte Behandlungsschritte geht, finde ich die persönliche Begegnung natürlich immer besser. Aber es ist ein angemessenes Mittel. Es ist mir lieber, als wenn die Sitzungen ausfallen würden. Was macht die Pandemie mit der Psyche von Kindern? Kinder und Jugendliche haben es in der Pandemie schwerer, weil sie sich an all die Veränderungen im Leben und in der Schule noch zusätzlich anpassen müssen. Dabei haben sie ohnehin schon genug mit sich zu tun. Das stellt sie vor besondere Herausforderungen. Ich höre aber kaum Klagen darüber. Sie nehmen es einfach hin. Das finde ich schade für die Kinder. Es tut mir Leid für sie, eigentlich für die ganze Generation. Wie viele Kinder sind bei Ihnen in Behandlung? Eine Zahl möchte ich nicht nennen. Aber ich arbeite sehr viel. Worüber ich traurig bin und was mich auch ärgert, ist, dass ich es nicht schaffe, alle in angemessener Zeit einzuladen oder zumindest zurückzurufen. Ich komme einfach nicht hinterher, aber ich bin dran. An beiden Standorten zusammen halte ich täglich acht bis zehn Sitzungen ab. Meine Patienten sind im Alter von fünf und 20 Jahren. Würden Sie sagen, dass die Pandemie psychische Störungen auslöst? Ich bin mir nicht sicher, ob die Corona-Pandemie Auslöser für psychische Störungen ist oder ob sie vorhandene nur verstärkt. Diese Generation hat es schwerer, wieder gesund zu werden. Kinder sollten eigentlich mit Freunden unterwegs sein, um ihr soziales Netz zu stärken. Wie sollen sie das machen, wenn sie nur zu Hause sitzen? Sie haben oft große Probleme sich zu konzentrieren. Die Kinder sollen ihre Arbeit jetzt zu Hause selbst organisieren. Das überfordert sie oft stark. Was sind die häufigsten Krankheitsbilder? Es spielen viele Dinge zusammen. Es ist immer sehr individuell. Tendenziell zugenommen haben Einsamkeit und Traurigkeit. Ich finde die Frage, woher Kinder ihre Ressourcen nehmen sollen, viel wichtiger als die, woran sie erkranken. Kindern fällt es jetzt schwerer, positive Erfahrungen zu machen. Das macht meine Arbeit auch schwieriger. Ich kann ihnen keine Übungsaufgaben für die Schule mitgeben, wenn die Schule nicht stattfindet. Wie könnte man aus Ihrer Sicht besser mit der Situation umgehen? Ich habe auch keine Patentlösung dafür und weiß auch nicht, wie man mit dieser Situation schlauer umgehen könnte. Ich habe das Gefühl, dass alle Beteiligten versuchen, das Beste daraus zu machen. Es gibt aber keine super Ratschläge. Wer gesund ist, kommt mit der Pandemie auch irgendwie klar, aber die Kleinen werden abgehängt und kleine Kinder, die ohnehin schon beeinträchtigt sind, erwischt es in einem besonderen und nachhaltigen Ausmaß. Wie sollen Kinder, die sowieso schon schulische Probleme hatten, das je alles aufholen? Ich habe ein ungutes Gefühl, was das alles langfristig für diese Kinder bedeuten wird. Da wird mir bange. Das macht mir Sorge. Was befürchten Sie da konkret? Verzögerte Bildungskarrieren, zum Beispiel. Manche Störungen könnten chronisch werden; manche Verläufe schwerer als ohne Pandemie. Welche Auswirkungen das im Einzelnen haben wird, lässt sich jetzt noch nicht absehen. Wie können Eltern ihre Kinder da unterstützen? Was raten Sie ihnen? Das ist schwer zu sagen. Kleinere Kinder verstehen gar nicht, was hier los ist. Sie merken nur, irgendwie ist alles anders. Die Eltern sind beunruhigt. Es gibt völlig neue Regeln. Die Schule funktioniert nicht mehr. Die Lehrer sind nicht mehr da. Die Normalität, das, woran sich Kinder orientieren können, geht verloren. Wenn uns die Pandemie ständig die Leitplanken unseres Lebens nimmt, ist das ein großes Problem. Strukturierte Aktivität ist immer gut – Sport im Freien, zum Beispiel. Gut ist es auch, Räume zu schaffen, in denen sich die Familien liebevoll, regelmäßig und intensiv unterstützend begegnen. Die Eltern sollten sich für die Sorgen ihrer Kinder interessieren und danach fragen, damit die Kinder spüren, dass sie ernst genommen werden. Wie läuft eine Behandlung bei Ihnen ab? Als Psychologe verordne ich keine Medikamente. Ich arbeite verhaltenstherapeutisch. Ich wende ein standardisiertes diagnostisches Verfahren an. Für fast jedes Störungsbild gibt es jeweils eine Leitlinie der Fachgesellschaften. Aus ihnen geht hervor, welche Behandlungselemente wirken. Ich unterhalte mich mit den Kindern und den Eltern. Es gibt Fragebögen und Tests. Die Diagnose erfolgt nach einer mathematischen Skala. Mit der Zeit ergibt sich aus der Arbeit, was gut funktioniert oder wo wir noch nachlegen müssen – oder die Schule mit ins Boot holen sollten. Woran können Eltern ein psychisches Problem bei ihrem Kind erkennen? Warnzeichen sind zum Beispiel: starker Rückzug, Traurigkeit, starke Ängste, Verhaltensauffälligkeiten, Aggressionen, Wutausbrüche. Es ist immer gut, zunächst den eigenen Kinderarzt um Rat zu fragen. Ich benötige aber keine Überweisung von ihm, um tätig zu werden. Bei sehr ausgeprägten Anzeichen wie Selbstverletzungen oder Suizidgedanken – also wenn Gefahr für Leib und Leben besteht – müssen die Kinder in psychiatrische Behandlung. Die Kinderpsychiatrien sollten personell verstärkt werden. Ich glaube, sie sind an ihren Kapazitätsgrenzen. Und das ist nicht gut. Was macht es mit Ihnen, Fortschritte in der Behandlung zu erleben? Wenn ich sehe, dass es voran geht und Erfolge sich einstellen, dann freut mich das sehr. Da geht für mich die Sonne auf. Die allermeisten Kinder und Eltern sind sehr bemüht. Ich bin froh, dass ich meinen Beitrag leisten kann, um Familien zu helfen. Sie sind seit August vergangenen Jahres in der Region tätig. Wie sind Ihre Erfahrungen seitdem? Die Zusammenarbeit der Hilfesysteme ist erstaunlich gut, ich würde sogar sagen exzellent, ganz gleich, ob es um schulpsychologische Themen, die sonderpädagogische Begleitung oder die Betreuung für in Not geratene Kinder und Jugendliche geht. Alles läuft professionell und zuverlässig ab. Man findet immer einen Ansprechpartner. Und diese sind gut vernetzt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich habe das auch schon anders erlebt. Von Björn Wagener