Selbstständige Hebammen müssen 9000 Euro für Haftpflicht zahlen

Sie kennen alle Umleitungen und Schleichwege. Sie wissen, wann die Autobahnen dicht sind. Und sie sind treue Hörer des Verkehrsfunks. Anja Vietz-Hennig und Kathrin Schröder sind freiberufliche Hebammen und arbeiten gemeinsam in der Hebammenpraxis im Sonnenweg in Wittstock. Sie sind täglich auf Achse. Der Schritt in die Selbstständigkeit: Anja Vietz-Hennig aus Wittstock ist seit 1996 Hebamme, ging 1999 in die berufliche Selbstständigkeit und gründete ihre Hebammenpraxis. Kathrin Schröder aus Pritzwalk war bis Ende 2008 angestellte Hebamme im KMG Klinikum in Pritzwalk. Dann machte dort die Geburtenabteilung dicht und Schröder ging im Januar 2009 in die Selbstständigkeit. Seitdem sind beide Hebammen ein Team. Vietz-Hennig und Schröder sind Leuchttürme in Prignitz und Ostprignitz-Ruppin. Neben ihnen in Vollzeit bietet noch Hebamme Madeleine Blümchen aus Neuruppin in Teilzeit das gesamte Spektrum rund um Schwangerschaft und Entbindung an. Weitere freiberufliche Hebammen sind in der Region tätig. Mit einem Unterschied: Sie bieten nur noch die Vor- und Nachsorge an. Für die Haftpflicht zahlen freiberufliche Hebammen derzeit 8700 Euro: Dreh- und Angelpunkt für diese Entwicklung ist die Haftpflichtversicherung, die jede selbstständige Hebamme zahlen muss. Begleitet eine Hebamme Geburten, muss sie derzeit 8664 Euro Haftpflicht pro Jahr zahlen. Zum 1. Juli steigt der Betrag auf jährlich 9100 Euro. „Wer nur Vor- und Nachsorge im Leistungsspektrum hat, zahlt 500 Euro im Jahr“, sagt Anja Vietz-Hennig. Die hohe Haftpflicht erklärt sich mit den gestiegenen Kosten für schwere Geburtsschäden sowie die Folgekosten in der Pflege und Therapie. 2015 war ein einschneidendes Jahr: Als Anja Vietz-Hennig 1999 in die Selbstständigkeit ging, lag die Haftpflichtversicherung bei jährlich 460 D-Mark. 2015 markierte eine Zäsur für die freiberuflichen Hebammen. „Die Versicherungsgruppe stieß die Hebammen damals ab und wir alle standen ohne Haftpflichtversicherung da“, sagt sie. Der Hebammenverband suchte Lösungen, dann gründete sich ein neuer Versicherungsverband für Hebammen. „2015 mussten wir dann 5800 Euro im Jahr für die Haftpflicht bezahlen“, sagt Kathrin Schröder. Seitdem steigt der Betrag unaufhaltsam. „Ich wünsche mir mehr Unterstützung seitens der Politik, dass sich etwas für uns ändert“, sagt Vietz-Hennig. Die hohe Haftpflichtversicherung brachte einen Stein ins Rollen. Viele Hebammen gaben auf oder nahmen die Geburt aus ihrem Leistungsspektrum. Bundesweit bieten nur noch gut 2600 der insgesamt gut 16.000 freiberuflichen Hebammen die Geburtshilfe an. 60 bis 80 Stunden Arbeit pro Woche: „Wenn ich sieben bis acht Entbindungen im Monate begleite, kann ich alles bezahlen und auskömmlich leben“, sagt die 44-jährige Anja Vietz-Hennig. Sie hat fünf Kinder im Alter von elf bis 24 Jahren. Und sie arbeitet wie Kathrin Schröder 60 bis 80 Stunden wöchentlich. „Wir lieben unseren Beruf. Hatten auch schon überlegt, die Geburten abzugeben, aber wir sehen unsere Pflicht und Verantwortung, die wir für die Frauen übernehmen“, sagen beide. Jährlich 90 bis 100 Geburten begleitet jede der beiden Hebammen. In Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen im Einsatz: „Jede von uns fährt durchschnittlich 300 Kilometer am Tag“, sagt die 52-jährige Kathrin Schröder. Beide sind in beiden Landkreisen unterwegs. Darüber hinaus fährt Schröder bis ins niedersächsische Wendland sowie bis Salzwedel oder Tangermünde in Sachsen-Anhalt. Anja Vietz-Hennig hingegen ist auch in Mecklenburg-Vorpommern im Einsatz und begleitet Hausgeburten in einem Umkreis von 120 Kilometer. „Wenn man an einem Tag Termine in Glöwen, Kremmen und Wesenberg hat, muss man genau überlegen, wie man die Tour legt“, sagt Vietz-Hennig. Die Geburtshilfe möchten beide nicht missen. „Die Geburt ist das Highlight in der Mitte, eingebettet von Vor- und Nachsorge, die Geburt bringt uns die Energie“, sagt Anja Vietz-Hennig. Mehr als 2000 Babys hat sie seit 1999 auf die Welt geholt. Kathrin Schröder hat aufgehört zu zählen – sie ist bereits seit 1987 als Hebamme tätig. Hausgeburten nehmen zu: Seit das Netz der Hebammen mit Geburtsbegleitung sowie die Entbindungsstationen in der Fläche Brandenburgs ausgedünnt ist, nimmt die Anzahl der Hausgeburten zu. „Das ist auch aus der Not geboren, weil die Wege in die Klinik so weit geworden sind“, sagt Anja Vietz-Hennig. Andererseits möchten Schwangere selbstbestimmter die Geburt ihres Kindes erleben. „Ich habe immer Respekt vor einer Hausgeburt, aber keine Angst“, sagt Schröder. Eine weitere Folge der rar gesäten Hebammen: Mitunter melden sich Schwangere bei ihnen schon nach dem ersten Testergebnis für die Geburt an. Aus Angst, am Ende keine Hebamme zu finden. „Ich habe jetzt schon Geburtstermine für Oktober“, so Vietz-Hennig. Bis 2015 hielten sich viele an die Empfehlung, sich nach der 20. Schwangerschaftswoche eine Hebamme zu suchen. Wo bleibt der Hebammennachwuchs? „Wir lieben unsere Arbeit, sie ist unser Traumberuf“, sagt Kathrin Schröder. Hebammen nehmen sich Zeit für die Schwangeren. „Wir wissen, wie sie ticken.“ Beide wünschen sich Berufsnachwuchs: „Wir möchten unsere Leidenschaft an die nächsten Generationen weiter geben. Aber wenn junge Hebammen sehen, was und wie viel wir hier leisten, schreckt sie das ab.“ Lesen Sie auch: Hebammen-Studium: Senftenberg lädt Brandenburg/Havel zur Zusammenarbeit ein Wie sich die MHB um die Hebammenausbildung bemüht Von Christamaria Ruch

Pritzwalk/Wittstock - 9000 Euro Haftpflicht: Was selbstständige Hebammen für ihren Job in Kauf nehmen