Stadtführung in Wittstock in Corona-Krise exklusiv für die MAZ

Das waren noch Zeiten. Claire und Willi Lange führten einst eine Musikalienhandlung in der heutigen Königsstraße in Wittstock. Wenn Kunden ihren Einkauf entgegennahmen, wickelte Claire Lange alles fein säuberlich ein. Auf dem Papier stand „Das reichste Kind ist arm ohne Musikerziehung.“ Diese und mehr Geschichten schüttelt die Stadtführerin Ute Mentzel aus dem Ärmel. Beim Neujahrsspaziergang vor einem Jahr nahm sie Besucher erstmals mit auf einen Streifzug durch die Häusergeschichte in Wittstock. „Das war ein spontaner Entschluss, über Handel und Handwerk zu erzählen“, erinnert sich Ute Mentzel an diese Premiere. Neujahrsspaziergang in Wittstock fiel aus, die MAZ findet eine Alternative: Doch in diesem Jahr ist alles anders: Die Wittstocker und ihre Gäste mussten wegen der Corona-Krise auf den beliebten Neujahrsspaziergang verzichten. Doch Ute Mentzel gibt der MAZ keinen Korb, sondern am Samstagvormittag eine exklusive Führung rund um den Markt. Dort holt sie längst vergangene Handwerker und Anekdoten ans Tageslicht. Oma-Enkel-Gespann ist ein eingespieltes Team: Ludwig Mentzel, ihr 19 Jahre alter Enkel, ist mit von der Partie. Auch er ist an Heimatgeschichte interessiert. „Oma ist immer locker, das macht Spaß, mit ihr zusammenzusein“, sagt der Junior und schlüpft in die Zuhörerrolle. Geschichtsinteresse von Kindheit an: „Über das Handwerk und Gewerbe in Wittstock weiß ich noch viel von meinen Eltern und Großeltern“, sagt die 73 Jahre alte pensionierte Ärztin. Ihr Vater, Gerhard Kamenz, war Böttchermeister in der Kettenstraße und engagierte sich als ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger im Wittstocker Museum. „Da habe ich das Interesse für Geschichte mitbekommen“, sagt Ute Mentzel. Seit Frühjahr 2012 nimmt die geschulte Stadtführerin Besucher auf einen Streifzug durch ihre Heimatstadt mit. Der Markt in Wittstock ist geschichtsträchtig: „Der Markt ist geschichtsträchtig, das Herzstück und die gute Stube der Stadt“, sagt Ute Mentzel. Bischof Heinrich II verkaufte den Markt 1275 an die Stadt. „Das war dessen Geburtsstunde“, sagt Ute Mentzel. Seit 1660 ist der Markthandel dort nachweisbar, und seit 1726 existiert ein Marktplan. Ludwig Mentzel nickt zustimmend, als seine Oma vom alten Bullenstall auf dem Markt erzählt. Dieser wurde 1869 abgerissen. „Ja, das wusste ich“, sagte der junge Mann. Markthändler verkauft Gemüse und lernt eine Anekdote kennen: Klaus Wendland aus Vehlow gehört heute zu den Stammhändlern auf dem Markt. Dienstags, donnerstags und samstags verkauft er Gemüse aus eigenem Anbau. „Meine Familie ist schon seit DDR-Zeit hier“, sagt er zu Ute Mentzel. Und: „Vor der Wende musste meine Mutter immer erst ins Rathaus, um die Festpreise für den Verkauf zu erfragen.“ Schon hat die Stadtführerin eine passende Anekdote parat: „In den 1930er Jahren gab es auf dem Markt den Körnerprüfer Max Bammelmann. Er prüfte die Qualität des Getreides, indem er die Ware in seinen nach oben ausgestreckten Ärmel hineinlaufen ließ. Wenn kein Korn mehr hineinpasste, unterbrach er die Prüfung und brachte die Ware nach Hause. Damit hatte er immer Kaninchenfutter.“ Erst Kammerlichtspiele, dann Zahnstation: Die frühere Poliklinik in der Poststraße beherbergt heute die Geschäftsstelle der Volkssolidarität. Auf dem dortigen Hof lockten die Kammerlichtspiele, bevor dann eine Zahnstation einzog. Friseure feuern die Geschichten an: Der Friseur Sandring bringt gegenüber des Rathauses Männerköpfe in Form. Vor Jahrzehnten war dort der Friseur Georg Schulz tätig, auch Karnickel-Schulz genannt. „Beim Haareschneiden erzählte er von seinen Zuchterfolgen“, sagt Ute Mentzel. Sein Bruder war der Friseur Herbert Schulz; heute verkauft dort die Firma Modepartner Schmidt. Da er einige Jahre in England war, bekam der damalige Friseur den Namenszusatz Engländer-Schulz. Ruckzuck zum Friseur: Friseur Schäfer hieß nur „Ruckzuck“, weil er im Galopp die Köpfe frisierte. Dieser Laden befand sich in der Gröperstraße, wo heute die Reinigung angesiedelt ist. Ute Mentzel zitiert auch eine Annonce aus den 1930er Jahren. Bei einem Damen – und Herrenfriseur im späteren Haus Puppenwächter gab es separate Eingänge für die weibliche und männliche Kundschaft. Dort wurde mit einer „amerikanischen Haarwäsche“ geworben. „Was das war, weiß ich nicht“, sagt Ute Mentzel. Von Christamaria Ruch