Erstmals werden Stolpersteine in der Gemeinde Michendorf verlegt - den Anstoß gaben Recherchen von Schülern

Louis Lewin Scheidemann führte ein Kaufhaus am Michendorfer Kreuzpunkt, war Mitbegründer des Volkshauses und ein Mann mit sozialer Ader. Und er trug das Eiserne Kreuz. Als Soldat im Ersten Weltkrieg rettete er dem Gastwirt Hammer aus Wilhelmshorst das Leben. Anständige Leute hätten dem Lebensretter Respekt dafür gezollt und ihn einen Helden genannt. Das Band mit Eisernem Kreuz wurde ihm auf offener Straße abgerissen: Louis Lewin Scheidemann erlebte es in seinem Land und im Heimatort anders. Als die Zeiten umschlugen und die braunen Menschenfeinde in den 1930er Jahren die Macht übernahmen, haben sie dem unbescholtenen Ehrenmann in Michendorf auf offener Straße das Band mit dem Eisernen Kreuz abgerissen. Sein Geschäft am Kreuzpunkt wurde boykottiert. Er musste es aufgeben und versuchte sich danach mit einem Bauchladen über Wasser zu halten. Es half nichts: Der Mann, der im Ersten Weltkrieg Leben rettete, hatte keine Chance mehr, weil er Jude war. Die Nazis nahmen ihm am Ende auch das Leben. Sie deportierten ihn 1943 ins Ghetto Theresienstadt, wo er umkam. Fünf Stolpersteine werden am Kreuzpunkt in Michendorf verlegt: Mehr als 80 Jahre nach den Demütigungen gibt ihm der Heimatort die Ehre zurück, die ihm gebührt. Die Gemeinde Michendorf will für Louis Scheidemann einen Stolperstein verlegen lassen. Auch für seine Frau Minna und die drei Kinder Alfred, Hildegard und Hans sollen Stolpersteine am Kreuzpunkt gesetzt werden – an der letzten frei gewählten Wirkungsstätte der Familie. Es sind die ersten Stolpersteine, die in der Gemeinde verlegt werden. Spurensucher fanden unbekannte Details und tragische Geschichten: Zurückzuführen ist die späte Ehrung auf Recherchen von Schülern des Wolkenberg-Gymnasiums, die jetzt von der Gemeinde und Bürgermeisterin Claudia Nowka (BfM) aufgegriffen werden, um an Verfolgte von damals sichtbar zu erinnern. Die jungen Leute aus dem Gymnasium haben sich mit ihrer Religionslehrerin Anne Voß auf die Spur früherer jüdischer Mitbürger gemacht und seit 2018 viele bisher unbekannte Details und tragische Geschichten gefunden. Schüler stießen auf unveröffentlichte Manuskripte: Zu den Spurensuchern gehören derzeit etwa Celine Semeredi, Elena Friedrichs und Julius Matthesius, die an Recherchen ihrer Vorgänger anknüpfen. Sie stießen mit Hilfe der Ortschronistin Edith Volkmer zum Beispiel auf unveröffentlichte Manuskripte von Alfred Schön, der als Rektor im Ruhestand in den 1950er Jahren persönliche Erinnerungen notierte, um „eine Art Ehrenrettung“ für Louis Scheidemann vorzunehmen. Lesen Sie auch: Der Holocaust als Schulthema: Das sagen Gymnasiasten aus Brandenburg Nur wenige entkamen den Todeslagern Versöhnungszitate an Eisenbahnbrücken Dessen Frau starb bereits 1937, wahrscheinlich auch an der harten Arbeit im Hausierhandel, mit dem die Familie zu überleben versuchte. Ihre Beinvenen sollen sich durch das anstrengende Laufen so stark erweitert haben, dass sie platzten, erzählt Spurensucherin Celine. Von Familie Scheidemann überlebte nur die Tochter die Nazi-Zeit: Minna Scheidemann verblutete in ihrer Wohnung. Ein Arzt, der helfen wollte, konnte sie nicht retten. „Bevor er in die Wohnung ging, hat ihn eine Nachbarin darauf hingewiesen, dass sie Jüdin ist“, sagt Celine. Von Familie Scheidemann überlebte nur Tochter Hildegard die Nazi-Zeit, weil sie rechtzeitig nach England emigrierte. Die Söhne Alfred und Hans starben im Vernichtungslager Auschwitz. Zwei Stolpersteine werden auch im Wilhelmshorster Birkenweg verlegt – für den jüdischen Architekten Wilhelm Ludwig Schlesinger und seinen Sohn Georg Alfred, die dort eine Zeit lang lebten. Familie Schlesinger aus Wilhelmshorst kam im Warschauer Ghetto um: Mit der Geschichte der Schlesingers hat sich Julius Matthesius befasst. Der Gymnasiast aus der Klasse 12 a wandte sich zum Beispiel an den Verein deutsch-jüdischer Architekten und bekam dort einen Kontakt nach Schweden – zu einem Verwandten des Architekten Moritz Hadda. Schlesinger führte mit Hadda auch ein Architekturbüro im damaligen Breslau, wo sie Spuren hinterließen. „Von ihnen stammt ein Gebäude in Breslau, in dem sich heute eine Versicherung befindet“, erzählt Julius. Wilhelm Ludwig Schlesinger und sein Sohn wurden 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert, beide kamen dort ums Leben, weiß er. Die Spurensucher wollen 2021 in einer Ausstellung ihre Recherche-Ergebnisse vorstellen. Religionslehrerin Anne Voß betont auch die Unterstützung, die das Schulprojekt unter anderem von Hartmut Kluge und Edith Volkmer erhalten hat. Am 30. November will die Gemeindevertretung auf Antrag der Fraktion Bürger für Michendorf einen Beschluss zur Verlegung von sieben Stolpersteinen fassen. Verlegt werden Stolpersteine durch die Stiftung Spuren des Künstlers Gunter Demnig. Von Jens Steglich