Wolfsangriffe in Stücken: Treibt der grimmige Winter die Räuber ins Dorf?

Als Horst Kieburg am Morgen die Jalousien hochzieht, sieht er sofort, dass irgend etwas nicht stimmt. Seine Kamerunschafe sind nicht dort, wo sie sonst immer stehen. Sie verharren direkt am Zaun unweit der Stückener Dorfstraße. Beim zweiten Blick sieht er auch, warum. Zwei Schafe der Herde stehen nicht mit am Zaun – sie liegen auf der Wiese. Zwei Wölfe haben sie getötet. Das weiß Kieburg so genau, weil eine Wildkamera die beiden Räuber aufgenommen hat. Ein Wolf kam nachts kurz nach Eins, der zweite 30 Sekunden später: Ein Wolf kam nachts eine Minute nach Eins, der zweite folgte 30 Sekunden später. Sie müssen danach über den Zaun gesprungen sein. „Sie haben die Schafe müde gejagt und dann zugebissen“, sagt Kieburg. Zwei seiner zehn Tiere werden getötet, drei verletzt. Der ein Meter hohe Zaun ist kein Wolfsschutzzaun, weil der Hobby-Schafhalter nicht damit gerechnet hat, dass Wölfe bis ins Ortszentrum von Stücken vordringen würden. Die Wiese, auf der Horst Kieburgs Schafe weiden, liegt in Wurfweite des Landgasthauses zu Stücken. Der Wolfsangriff, der Dienstagnacht passierte, ist der zweite innerhalb kurzer Zeit. Zwei Nächte vorher haben Wölfe im Dorf bereits an anderer Stelle zwei Schafe gerissen, ein drittes erlag später seinen Verletzungen. Treibt der grimmige Winter die Wölfe in die Siedlungen? Die beiden Angriffe mitten im Ort sorgen in Stücken für Unruhe. Es gibt auch die Vermutung, der plötzlich grimmig gewordene Winter mit Schnee und strengem Frost könnte die hungrigen Räuber in die Siedlungen treiben, weil es dort derzeit leichter ist als in den Wäldern, Beute zu jagen. Zumal es derzeit auch keine Jungtiere unter Rehen und Wildschweinen gibt. „Bei Schnee im Winter hat es der Wolf sogar leichter, Wild zu jagen“: Torsten Fritz, der Wolfsbeauftragte des Landkreises Potsdam-Mittelmark, widerspricht. „Bei Schnee im Winter hat es der Wolf sogar leichter, Wild zu jagen“, sagt er. Das Schalenwild fahre die eigene Energie und den Biozyklus in kalten Zeiten herunter und bewege sich weniger, so Fritz. Der Wolf könne zudem die Spuren im Schnee besser verfolgen. „Er wird aber an Ortschaften immer gucken, ob ein durchlässiger Zaun zu finden ist. Wölfe klammern Ortschaften nicht aus, wenn diese in ihrem Revier liegen“, sagt der Wolfsbeauftragte. „Wenn dort Nutztiere weitgehend ungeschützt stehen, nehmen sie die und sparen Energie.“ Aufgabe für den Menschen sei es, „dem Wolf es so schwer wie möglich zu machen, Nutztiere zu jagen“, sagt er und verweist auf Fördermittel, die für Schutzmaßnahmen wie Elektroschutzzäune zur Verfügung stehen. Anja Brandenburg fährt jeden Morgen mit Herzklopfen zur Weide: Anja Brandenburg hat einen geförderten Elektroschutzzaun, genauso einen Untergrabschutz. Auch zwei Lamas hatte sie sich für den Herdenschutz angeschafft. Und doch fährt die Schafhalterin jeden Morgen mit Herzklopfen zur Weide. Sie hat dort 25 Ostpreußische Skudden stehen, die seltener sind als Wölfe und auf der Roten Liste für bedrohte Nutztierarten geführt werden. Mutterschafe in der Herde tragen noch zehn bis zwölf Lämmer im Bauch, die das Licht der Welt zu Ostern erblicken sollen. Die Schafhalterin plagt ein Alptraum: Die Schafhalterin plagt ein Alptraum: Eines Morgens auf die Weide zu kommen und aufgerissene Muttertiere zu finden oder ihren prämierten Bock tot auf der Wiese zu sehen. „Ich bin Naturschützerin. Ich habe nichts gegen Wölfe, aber gegen die unkontrollierte Vermehrung der Wölfe, die diese Kulturlandschaft bei uns nicht verträgt“, sagt sie. Ihre Schafe pflegen die Landschaft am Ortolanweg in Stücken, die Flächen hat sie vom Landschaftsförderverein Nuthe-Nieplitz-Niederung gepachtet. Die Schafhalterin sucht trotz Elektrozaun jetzt einen Stall, in dem sie ihre Schafe nachts unterbringen kann. Den Zaun hatte sie sich zugelegt, nachdem 2018 Wölfe zwei ihrer Schafe auf der Wiese hinter der Stückener Parkhalle getötet und zwei so schwer verletzt hatten, das sie erlöst werden mussten. Danach hatte sie erst einmal Ruhe. Ihre Sorge ist jetzt, dass die Wölfe, die in Stücken gerade fünf Schafe gerissen haben, auf den Geschmack gekommen sind – in dem Wissen, „dass es hier leichte Beute gibt, die nicht wegrennen kann“. Sie überlege ernsthaft, hinzuschmeißen und die Schafhaltung aufzugeben. „Wenn es mir noch einmal passiert, weiß ich nicht, ob ich weitermachen kann“, sagt sie. Von einem befreundeten Schafhalter hat sie sich jetzt zwei Herdenschutzhunde ausgeliehen, die Tag und Nacht bei der Herde wachen. „Die Beutezüge sind auch ein Angriff auf die Lebensqualität im Dorf“: Für Landwirt Jens Schreinicke, an dessen Mutterkuhherde die Räuber noch vorbeizogen, sind die jüngsten Beutezüge der Wölfe auch ein Angriff auf die Lebensqualität im Dorf. „Das ist kein gutes Gefühl, zu wissen: Während wir schlafen, ziehen die Wölfe um die Häuser.“ Er plädiert klar dafür, Wölfe, die wiederholt bis ins Ortszentrum vordringen und Nutztiere reißen, zu schießen. Zwischenrufe aus der Komfortzone: In den Debatten um den Umgang mit dem Wolf sieht Schreinicke auch eine Diskrepanz zwischen Stadt und Land. „Stadtmenschen verstehen die Sorgen auf dem Land nicht. Ich mache das denen nicht zum Vorwurf“, sagt er. Vorwürfe mache er aber jenen, „die uns über den richtigen Umgang mit dem Wolf belehren und die Realitäten hier draußen nicht wahrhaben wollen“, sagt Schreinicke und fügt hinzu: „Das sind Zwischenrufe aus der Komfortzone.“ Der Landwirt verweist auch auf die Riss-Statistik für 2020. „So viele Nutztiere sind noch nie gerissen worden.“ 625 getötete Schafe sind dort aufgeführt, die Dunkelziffer sei höher. In 45 Prozent der Fälle galten die Schafe durch regelkonforme Zäune als geschützt und wurden doch gerissen, sagt er. Von Jens Steglich