Wolkenberg-Gymnasium Michendorf: Henrik Reinkensmeier über Frohsinn und Tiefschläge im Leben eines Lehrers

Henrik Reinkensmeier ist seit fast 40 Jahren Lehrer und seit 30 Jahren Direktor des Michendorfer Wolkenberg-Gymnasiums. Nebenher ist er leidenschaftlicher Büttenredner. Ein Interview über das Lehrerdasein. Herr Reinkensmeier, können Sie sich noch an Ihren ersten Schultag als Lehrer erinnern? Henrik Reinkensmeier: Nur vage. Ich war im ersten Dienstjahr in Groß Glienicke Lehrer. Das war das einzige Jahr in einer anderen Einrichtung. Ansonsten war ich in Michendorf Schüler, Lehrer und Schulleiter. Mein Dienst als Lehrer begann in Michendorf 1982. Ich sollte eigentlich zur Armee eingezogen werden, einen Tag davor habe ich mir aber in den Finger gesägt. „Es war wirklich ein Unfall“: War das Absicht, um der NVA zu entgehen? Nein, aber ich hatte schon Angst, dass sie mir Selbstverstümmelung vorwerfen. Es war wirklich ein Unfall. Die Armeezeit musste ich auch nachholen. Warum sind Sie überhaupt Lehrer geworden? Mein Vater war in Beelitz 40 Jahre lang Lehrer und kam im Gegensatz zu anderen Leuten immer vergnügt von der Arbeit nach Hause. Das ließ in mir den Wunsch aufkeimen, diesen offensichtlich erfreulichen Berufsweg einzuschlagen. Mit dem Wechsel nach Michendorf stellte sich Erfreulichkeit ein: Sind Sie als Lehrer immer vergnügt nach Hause gekommen? Um Vergnügen zu erfahren, musste ich in diesem Job ein wenig länger warten. Mit dem Wechsel nach Michendorf stellte sich Erfreulichkeit ein. Dort war ich umgeben von meinen früheren Lehrern, die schützend ihre Hand über mich hielten. Neben meinem Vater war auch ein Lehrer dieser Schule Vorbild für mich. Er ist inzwischen weit über 90 Jahre alt und heißt Alfred Bertz. Sie waren Schüler in Michendorf und sind dort Direktor geworden. Trauen Sie einem Ihrer Schüler auch so eine Lehrer-Karriere zu? Ja, sicher. Es ist für mich schon ein besonderes inneres Fest, wenn ehemalige Schüler als Referendare zu uns kommen und als Lehrer ausgebildet werden. Wir haben gerade einen da. Er wollte erst Journalist werden, jetzt ist er Referendar bei uns in Michendorf. „Verdruss ist bei uns die Ausnahme“: Macht die Arbeit nach 30 Jahren als Schuldirektor noch Spaß? Ja. Ich habe es weder bereut, Lehrer zu sein noch habe ich es bereut, Schuldirektor geworden zu sein, weil man gewisse Gestaltungsspielräume positiv nutzen kann. Es berührt mich immer wieder, wenn ich sehe, wie das Zusammenspiel von 700 Akteuren funktioniert. Es funktioniert, weil eine gewisse Herdenvernunft da ist. Verdruss ist bei uns die Ausnahme. Wenn Sie ein Buch über ihr Leben als Lehrer schreiben würden, welchen Titel würden Sie dem Werk geben? Da müsste ich länger darüber nachdenken. Ich empfinde in stillen Stunden immer eine tiefe Dankbarkeit, dass es für mich Menschen gab, die mit ihrem Wohlwollen meinen Lebensweg begleitet haben. „Hass ist mir fremd“: Sie haben nie jemanden gehasst? Hass ist mir fremd. Ich finde bestimmte Verhaltensweisen unsympathisch oder Widersprüche in der Gesellschaft. Wenn zum Beispiel hektarweise Wald gerodet wird, um einen autobahnähnlichen Radweg zu bauen, ist mir das unverständlich. Ich würde mir auch wünschen, dass es unter den jungen Menschen eine breite Initiative geben könnte zur Aufforstung von Wäldern und zur Pflanzung von Straßenbäumen, statt nur mit Losungen auf die Straße zu gehen. Was waren bewegende Momente? Besondere Höhepunkte sind Abi-Bälle oder in meiner Freizeit Auftritte beim Karneval. Gibt es Abschiedsschmerz, wenn Schüler das Gymnasium verlassen? Die Schüler sind ja nicht aus der Welt. Viele kommen wieder, einige bitten um Rat. Was man miteinander teilt, sind schöne Erinnerungen zum Beispiel an Klassen- und Kaffeefahrten. Kaffeefahrten nach Dresden: Im Bus läuft Spezial-Mucke: Kaffeefahrten? Mit dem Mathekurs mache ich Kaffeefahrten nach Dresden zu den Kaffeesachsen. Nach dem Wandern im Elbsandsteingebirge und einem Stadtrundgang gibt es Kaffee im Coselpalais – von mir spendiert. Dort wird dann herumgeblödelt und auch ernsthaft diskutiert. Im Bus läuft Spezial-Party-Mucke – zum Beispiel die „Annemarie-Polka“. Ist eine Abi-Feier mal aus dem Ruder gelaufen? Nein, noch nie. Es ist der Höhepunkt eines Schülerlebens, der bei uns immer fröhlich und gediegen klassisch abläuft. Ich halte immer eine Abi-Rede und nach dem Abi-Ball beginne ich dann mit der Karnevalsrede. Das ist mein persönlicher Jahreszyklus. Ziel bei jeder Abi-Rede ist, den Saal zum Lachen zu bringen: Wird die Abi-Rede manchmal zur Büttenrede? Ich habe natürlich das Ziel, bei jeder Abi-Rede den Saal zum Lachen zu bekommen. Die Schüler liefern genug Material, um davon etwas aufzuwärmen. Was war so eine Schülergeschichte, die den Saal zum Lachen gebracht hat? Ich war mit einer 9. Klasse im Berufsinformationszentrum. Für einen Schüler und wahrscheinlich auch für seine Eltern war klar, dass er die Klempnerfirma der Familie übernehmen wird. Nach der Eingabe seiner Vorlieben in den BIZ-Computer spuckte dieser für den Schüler ein besonderes Bonbon aus: eine Karriere als Tanztherapeut. So verschwand hoffnungsfroher Handwerkernachwuchs durch überbordende Fürsorge mit computergestützter Berufsberatung. Man sollte sich darauf beschränken, dort helfend zu beraten, wo es nötig ist. „Wir haben keine ’Straße der Besten’“: Gibt es Schüler, die besonders in Erinnerung geblieben sind? Wir haben keine „Straße der Besten“. Ich kann nur sagen, mir sind die Frau Professorin in Zürich und der CDU-Landespolitiker genauso lieb wie die ehemalige Gastschülerin aus Georgien, die jetzt Ärztin in Chemnitz ist, der Handwerker oder eine Mutter von vier Kindern. Wichtig ist, dass sie auch durch ihre schulische Ausbildung gelernt haben, mit den Problemen des Lebens zurechtzukommen und sie es schaffen, ein Gleichgewicht zwischen Stress und Frohsinn zu leben. Mich berührt es besonders, wenn ich im Unterricht vor mir Kinder von ehemaligen Schülern sitzen habe. Es wird damit auch eine Verbundenheit mit dieser Schule deutlich, wenn frühere Schüler ihre Kinder zu uns schicken. Henrik Reinkensmeier wurde am 28. Juni 1959 in Potsdam-Bornstedt geboren. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. 1990 wurde er Direktor der Polytechnischen Oberschule (POS) Michendorf und anschließend 1991 Gründungsdirektor des Wolkenberg-Gymnasiums, das die POS aus DDR-Zeiten ablöste. Das Glücksschwein war so groß, dass es geschlachtet werden musste: Haben die Schüler Ihnen mal einen Streich gespielt? 1995 haben sie mir ein Ferkel geschenkt – als Glücksschwein. Was ist aus dem Schwein geworden? Nach einem dreiviertel Jahr war das Glücksschwein so groß, dass es geschlachtet werden musste. Die Schule und ich hatten trotzdem weiterhin viel Glück. Ich hatte seinerzeit Bouletten in der Schule verteilt. „Als Büttenredner bin ich ein Grenzgänger“: Sie sind auch Büttenredner. Worüber reden Sie da so auf der Bühne? Über alles mögliche. Ich habe gern frohsinnige Menschen um mich herum und es für mich auch als Lebensinhalt begriffen, Vergnügen zu bereiten. Ich bin auf der Bühne „Hartz der IV.“ und sehe mich in einer Reihe mit Friedrich II., Wilhelm I. und Benedikt XVI. Als Hartz der IV. bin ich ein notorisches Faultier, das unter Ausnutzung aller sozialen Hilfsprogramme lebt und auf allen Gebieten beschlagen und urteilsfähig ist. Das ist meine Bühnenfigur. Da bin ich ein wenig der Grenzgänger, der das Mäßigungsgebot, das aus dem Amt des Oberstudiendirektors herrührt, hier und da schon mal touchiert. Ich bin ja Beamter. Was ich da ablasse, geht eigentlich kaum. Aber ich bin in der Rolle geschützt durch das Brauchtum Karneval. Ich habe Narrenfreiheit, weil ich es innerhalb dieses Brauchtums mache und zweitens erst nach 22 Uhr auftrete. „Ich würde nie Bildungsminister werden wollen“: Hat Ihnen ein Schüler schon mal vorgeworfen, Sie würden im Unterricht wie ein Büttenredner sprechen? Schüler würden das eher genießen, die werfen einen das nicht vor. Allerdings sage ich bei Neuübernahme einer Klasse auch, dass sich bitte niemand durch meine lästerlichen Reden verletzt fühlen soll. Was würden Sie ändern, wenn Sie Bildungsminister in Brandenburg wären? Ich würde nie Bildungsminister werden wollen. Mein berufliches Leben in Michendorf lässt kaum Wünsche offen. Ich bin dem Bildungsministerium und dem Landkreis aber dankbar für die Spielräume, die sie mir und der Schule lassen, um überleben zu können. Ein Gymnasium in dieser Größe ist in einer kleinen Gemeinde eher ungewöhnlich. Aus dem Digital-Unterricht werden keine besseren Menschen entlassen: Wie weit ist das Gymnasium mit der Digitalisierung? Digitalisierung ist kein Allheilmittel und steckt bei uns auch nicht in den Kinderschuhen. Allerdings: Die tollen Effekte sehe ich nicht. Aus dem Digitalunterricht werden keine besseren Menschen entlassen. Ich meine, dass ein Lehrer, der bei den Schülern präsent ist, neben der Wissensvermittlung eine Vielzahl anderer Aufgaben bewusst oder unbewusst wahrnimmt. Es geht auch um ganz banale Dinge wie zum Beispiel Vorbildwirkung. Ich denke, wir haben in der Corona-Zeit auch gelernt, dass ein guter Lehrer nicht durch „pädagogisch-didaktische Fernwärme“ im Online-Betrieb zu ersetzen ist. 30 interaktive Tafeln verbrauchen permanent Energie: Niemand redet vom höheren Stromverbrauch, wenn Kreidetafeln den interaktiven Tafeln weichen müssen. Wir haben 30 moderne, interaktive Tafeln, die permanent eine erhebliche Menge Energie verbrauchen. Ich würde mich freuen, wenn sich der Bildungserfolg bei den Schülern proportional zum Stromverbrauch entwickelt. Da sind gewisse Zweifel angebracht. Was war der größte Tiefschlag, den Sie hinnehmen mussten? Dass der Landkreis 2015 in etwas rustikaler Manier die Turnhalle des Gymnasiums in eine Flüchtlingsunterkunft umfunktionieren ließ. Mir war das suspekt: Wenn man von Willkommenskultur spricht, sollte man nicht eine überhitzte Turnhalle als Massenunterkunft bereithalten. Als mir dann durch eine Zeitung mit großen Buchstaben fälschlicherweise nachgesagt wurde, ich hätte Schülerinnen das Tragen kurzer Röcke und Shorts verboten, musste ich einen Shitstorm über mich ergehen lassen – nebst Morddrohung von Rechts. Das war schon belastend. „Es ging darum, Rücksicht auf religiöse Empfindungen zu nehmen“: Was haben Sie den Schülerinnen denn geraten zu tragen? Ich habe damals die Lehrer mit der Belehrung der Schüler beauftragt. Vorher hatte ich mit Schülersprechern zusammengesessen, um einen Belehrungsleitfaden zu erarbeiten. Da ging es auch darum, Rücksicht auf religiöse Empfindungen der neuen Turnhallenbewohner zu nehmen. Die Bekleidung war nur ein kleiner Baustein. Ich bin prinzipiell ein Mensch, der die Dinge realistisch sieht und dekliniere die Problemlagen durch, die auftreten können. Es trieb mich um, das Überleben der Schule in dieser Situation zu sichern. Gibt es eine Eigenschaft, die Sie gern nicht hätten? So wie ich bin, bin ich halt. Ich sage den Leuten offen, was ich denke. Ich glaube, ich bin damit bisher am besten gefahren. Es erfreut mich jedes Jahr, wenn ich unsere Anmeldezahlen sehe. Wir konnten im letzten Jahr nicht alle Schüler aufnehmen, die sich beworben haben. Das zeigt mir: „Es war nicht alles schlecht.“ (lacht) Von Jens Steglich