AWO Schatztruhe in Potsdam: Was dem Schlaatz wirklich fehlt

Vielen Stadtteilen in Potsdam eilt ein Ruf voraus. Die Berliner Vorstadt, dass Viertel der Reichen. Die Waldstadt, der Stadtteil der Alten. Und der Schlaatz? Das Viertel im Potsdamer Süden wird gerne als Problemkiez beschrieben, ein Image, gegen das viele am Schlaatz seit Jahren kämpfen. Einer von ihnen ist Raico Rummel, seit fünf Jahren Teilbetriebsleiter des Spenden- und Tauschladens „Schatztruhe“, eine Einrichtung des AWO-Bezirksverbands Potsdam e.V. Im MAZ-Interview spricht er über Vorurteile, Probleme und Wünsche im Schlaatz. Herr Rummel, für viele Potsdamer ist der Schlaatz ein sozialer Brennpunkt. Zurecht? Ich glaube, dass ist ein Vorurteil. Die Schlaatzer, die zu uns kommen, sind alle sehr offen und kommunikativ. Es sind Menschen aus sehr vielen Nationen und viele von ihnen engagieren sich ehrenamtlich. Das klappt in unserem Projekt super. Es geht am Schlaatz nicht vorrangig um Herkunft oder Religion, sondern um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Alle Kapitel unserer großen Potsdam-Serie lesen Sie unter: potsdam.maz-online.d e Was würden sie den Menschen sagen, die im Schlaatz vor allem Potsdams Problemstadtteil sehen? Der Schlaatz ist ein wunderschöner Ort. Wir sind hier mitten in der Stadt. Damals haben sich die Stadtplaner richtig einen Kopf gemacht. Es ist eine Halbinsel, fast ohne Autoverkehr. Hier gibt es nicht nur viele Spielplätze. Die Menschen können sich im Stadtteil bewegen, wie sie es möchten. Spielend, auf dem Skateboard, mit Kinderwagen, Fahrrad oder Dreirad und natürlich zu Fuß. In welchem anderen Stadtteil ist das noch möglich? Und warum hält sich das schlechte Image trotzdem so hartnäckig? Dieses Vorurteil ist schon 30 Jahre alt und stimmt so nicht mehr. Ich bin ja in Potsdam aufgewachsen. Wir erfahren in der AWO „Schatztruhe“ täglich, dass die Menschen hier nicht diesem Image entsprechen. Ich denke, viele kennen den Stadtteil kaum. Der Schlaatz ist bunt durchmischt, engagiert und unheimlich grün. Trotzdem liest man im Polizeibericht häufiger von Auseinandersetzungen. Wie oft bekommen Sie denn Konflikte mit? Streit ist menschlich, es gibt ihn in allen Stadtteilen. Wir kommen in unserem Arbeitsalltag sehr gut ohne Polizei aus. Alle versuchen, sich an unsere Regeln zu halten. Wie schätzen Sie das Konfliktpotenzial allgemein ein? Ich denke, dass es noch mehr Angebote braucht, in denen sich die Menschen, die hier leben, engagieren können. Viele sind verdammt, nichts zu tun, weil sie arbeitslos sind. Da braucht es etwas, wo sie ihre Zeit verbringen und vielleicht etwas zurückgeben können. Ansonsten sehe ich, dass die Schlaatzer sich mit dem Stadtteil identifizieren. Die normalen, nachbarschaftlichen Probleme hat man in jedem Stadtteil. Was fehlt dem Schlaatz sonst noch? Wichtig ist wirklich, dass man den arbeitslosen Menschen eine Chance bietet. Manche verlieren da die Tagesstruktur. Es sollte mehr Projekte geben, wo diese Tagesstruktur im Vordergrund steht, wo sie sich einbringen können. Da gibt es meiner Meinung nach aber in ganz Potsdam definitiv zu wenig. Glauben Sie, dass ist der Grund, dass der Schlaatz in Umfragen zur Lebenszufriedenheit so schlecht abschneidet? Hier leben fast 10.000 Menschen. Und für die gibt es schlicht zu wenig Infrastruktur. Das ist aus meiner Sicht das Hauptproblem, das die Menschen unzufrieden macht. Es fehlt zum Beispiel ein Ärztehaus, Gewerberäume und mindestens 10 soziale Projekte, wie Sportangebote, Musikschule und Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung. Alle engagierten Akteure vor Ort brauchen mehr Unterstützung durch weitsichtiges Quartiersmanagement. Wie bewerten Sie die Wohnsituation? Große Wohnungen fehlen. Es gibt hier viele Familien, die mehr als zwei Kinder haben. Das ist leider nicht richtig mitgeplant, es bräuchte einfach mehr Vier- oder Fünfraumwohnungen. Ich kenne hier ein paar Familien, die haben vier Kinder und leben in einer Dreiraumwohnung. Zu sechst in einer Dreiraumwohnung wohnen, das macht einfach überhaupt keinen Spaß. In Potsdam gibt es kaum noch bezahlbaren Wohnraum, außer im Schlaatz. Den muss man einfach wieder vernünftig neu mitplanen. Die Wohnsituation an sich ist total schön, grün und verkehrsarm. Welche Menschen kommen zu Ihnen in die Schatztruhe? Zu uns kommen Menschen aus allen Stadtteilen, Nationen und Schichten der Gesellschaft. Die AWO „Schatztruhe“ ist auch ein Begegnungszentrum. Hier treffen sich Nachbarn und kommen miteinander ins Gespräch. Ungefähr 50 Prozent der Kundschaft kommen aus Schlaatzvegas, wie sie ihren Stadtteil liebevoll nennen. Das Datenjournalismus-Projekt „Potsdam ganz nah“ ist gefördert durch das Kartographen Mercator Stipendien-Programm für JournalistInnen – eine Initiative des gemeinnützigen Vereins Fleiß und Mut e.V. Von Jennifer Bongards