Auf dem Balkon der Kräuterfee in der Potsdamer Nutheschlange

Die Melisse ist eine Märtyrerin. Sie führt ein tapferes Schattendasein – und steckt all die dunklen, feuchten Stunden hier unten im ruhigen, grünen, aber zwielichtigen Nordwest-Hinterhof der Nutheschlange besser weg als die anderen Kräuterkameraden. Vieles hat Susanne Hackel (39) vor ihrem Fenster versucht – doch die Pflanzen, die nicht eingegangen sind, sind zum Buffet gefräßiger Schecken geworden. „Es fehlt hier einfach die Sonne“, sagt Susanne Hackel: „Sie schafft es kaum über die Häuser und Bäume hinaus.“ Huflattich und Beinwell sind verschwunden: Tomaten, Gemüse, süße Beeren und dufte Blumen kann Susanne Hackel auf ihrem Balkon – oder viel mehr: auf ihrer Terrasse – vergessen. Seit eine neue, ambitionierte Gartenbaufirma vor ein paar Monaten die Pflege übernommen hat, ist auch das meiste von dem, was Susanne Hackel auf dem vormals „gesetzlosen Land“ direkt vor ihrer Terrasse ausgesetzt hatte, verschwunden: Der Huflattich zum Beispiel und der Beinwell, der seit Alters her – der Name sagt’s – bei Gelenkschmerzen, Muskelbeschwerden und Verstauchungen verwendet wird. Heilsame Salben und Tinkturen, Tees und Räucherwerk, sanfte Naturkosmetik und eine wilde Kräuterküche sind das Metier von Susanne Hackel. Die Heilpraktikerin und Dozentin für Phytotherapie gibt ihr Wissen in ihrer Naturheilpraxis und Kräuterwerkstatt weiter. Gerade ist sie mit Sack und Pack in die Ruinenbergstraße 22 gezogen. Ihre Kurse, Workshops, Fastenwochenenden und Heilpflanzenseminare führen aber auch in den Volkspark, ins Glauer Tal, an die Ostseeküste und in die Hansestadt Havelberg, wo Susanne Hackel ihre Kindheit und Jugend verbracht, wo sie ihre Liebe zur Natur entdeckt hat. Sie schöpft noch heute aus der Fülle des Havelberger Gartens: „Ich bin in einen riesigen Garten aufgewachsen“, schwärmt Susanne Hackel: „Direkt dahinter beginnt der Wald.“ Im Garten ihrer Kleinmädchentage haben die Großeltern vor allem Spargel angebaut. Aber auch eine Streuobstwiese mit allerlei Apfelsorten und Quitten gehört dazu. Vor dem Haus wachsen Rosen. Aus der Fülle des Havelberger Gartens und der ungezähmten Umgebung schöpft Susanne Hackel bis heute: Dort erntet sie Gundermann, Heckenrose und Holler. Aus den leuchtend orange-gelben Ringelblumen, die jetzt in voller Blüte stehen, stellt sie Öl her. „Es unterstützt bei kleineren Verletzungen und Abschürfungen die Wundheilung“, sagt Susanne Hackel. Das Öl macht auch raue Hände wieder geschmeidig. Ihre Fingernägel hat Susanne Hackel in flammendem Pink lackiert. Sie trägt einen Rock in Karminrot, ihr Shirt ist moosgrün, oft und gern steckt sich Susanne Hackel Blumen und Kränze ins Haar. „Ich liebe Farbe“, sagt sie. Weil’s auf der schattigen Terrasse aber nicht so recht bunt werden will, setzt sie eigenmächtig Farbkleckse: mit dem Tischtuch, mit Kissen und Decken, mit Wimpeln und Laternen, mit einem Teppich und mit einem Frida-Kahlo-Porträt, das an einem der großen, für die Nutheschlange typischen Fenster lehnt. „Balkon oder Terrasse – das war für uns zweitrangig“: Seit acht Jahren lebt Susanne Hacke hier – noch ist die Familie zu viert, doch der ältere der beiden Söhne (20 und 9) bricht nun in einen neuen Lebensabschnitt auf. Dass es die Familie überhaupt in die Nutheschlange verschlagen hat, ist reiner Zufall, sagt Susanne Hackel: „Es war schon damals schwierig, in Potsdam eine Wohnung zu finden. Ein Balkon oder eine Terrasse – das war für uns zweitrangig. Unsere Not war so groß: Wir hätten auch eine Wohnung ohne genommen.“ Umso schöner sei es nun, dass die Familie ihr Leben nach Lust, Laune und Wetterlage nach draußen verlegen kann. „Im Sommer essen wir abends eigentlich immer auf der Terrasse“, sagt Susanne Hackel. „Auch wenn Freunde zu Besuch kommen oder wir Kindergeburtstag feiern, sitzen wir hier. Am schönsten ist es im Frühling: Wenn das Leben wieder erwacht, es aber noch kalt ist, mummeln wir uns morgens in Strickjacken und trinken eine Tasse Tee oder Kaffee.“ Dörfliche Stimmung mitten in der Landeshauptstadt: Dass anders als beim Balkon keine Balken, keine Gitter oder Mauern die Terrasse begrenzen, sei befreiend, sagt Susanne Hackel. Die mit Holz ausgelegte Terrasse bleibt so den Menschen vorbehalten. Die Kräuter – egal, ob im Freiland, im Topf oder Kasten – säumen das Plateau. Der Waldmeister hat es ich an der Hauswand eingerichtet. Hier und da sprießt Johanniskraut. Salbei, Rosmarin und Zitronenverbene geben ihr Bestes. Der Farn steht in Saft und Kraft. Hätte sie die Wahl gehabt, Susanne Hackel hätte sich die Nutheschlange wohl nicht von allein ausgesucht – aber sie hat das oft geschmähte Ensemble, dessen Terrassenhaus die Stadt und die Pro Potsdam abreißen lassen, das Bewohner und Nachbarn hingegen retten wollen, schätzen gelernt. „Es lebt sich gut hier“, sagt Susanne Hackel. „Die Stimmung ist sehr dörflich. Die Kinder klingeln sich gegenseitig zum Spielen raus und wir lassen sie ziehen, weil wir wissen, wer unsere Nachbarn sind.“ Lesen Sie auch diese Balkongeschichten: Zu Besuch bei Evi Gutt im Kaiser-Wilhelm-Stift Zu Besuch bei Wolfgang Schalt an der Historischen Mühle von Sanssouci Zu Besuch bei Marie-Luise Arndt in der Waldstadt Zu Besuch bei Mike Rischer in der Brandenburger Vorstadt Groß, klein, Süd, West, Nord, Ost, mit Dach und ohne, in schwindelnder Höhe und im Hochparterre – Potsdam ist voll von Balkonen. Jeder ist besonders, denn jeder ist anders – so wie die Menschen, die es sich dort gemütlich machen. Sie züchten Rosen auf Ihrem Balkon? Oder ernten sie lieber Tomaten? Sie haben sich mit Sofa, Teppich und Co. eingerichtet? Oder steht da nur ein Klappstuhl? Sie laden gern zu Partys auf Ihren Balkon ein? Oder genießen Sie lieber die Ruhe? Die MAZ stellt Potsdamer und ihre Balkone vor. Sie wollen dabei sein – oder kennen jemanden, der dabei sein sollte? Sie erreichen uns unter 0331/28 40 280 und per E-Mail an potsdam-stadt@maz-online.de Von Nadine Fabian

Geschichten vom Balkon - So gärtnert es sich im Schatten der Nutheschlange