So viel „Stadt für eine Nacht“ war noch nie: Rund 30 000 Besucher haben das durchgängig tolle Sommerwetter genutzt und sind am vergangenen Wochenende zu dem 24-stündigen Kulturereignis in die Schiffbauergasse geströmt. Damit habe die sechste Auflage die Zahlen aus dem vergangenen Jahr, als etwa 25 000 Gäste kamen, deutlich übertroffen, freute sich Projektleiterin Jessica Harmuth, städtische Standortbeauftragte des Erlebnisquartiers. Die von der Märkischen Allgemeinen Zeitung präsentierte Riesensause wurde einst von Hans-Otto-Theater-Intendant Tobias Wellemeyer erdacht, um das geballte kreative Potenzial des oft als verschnarcht wahrgenommenen Standortes zu präsentieren.
Alles andere als zum Gähnen war das Programm von Sonnabend, 14 Uhr, bis Sonntag, 14 Uhr: Aus mehr als 80 Einzelveranstaltungen der in der Schiffbauergasse ansässigen Kultureinrichtungen von Fabrik über Hans-Otto-Theater bis T-Werk bekamen Besucher beinah im Minutentakt was Neues geboten: Offene Tanzkurse, Workshops, Live-Hörspiele, Ausstellungen, Komödien, Lesungen, Konzerte, Partys, Rollschuh-Disco, Straßen-, Bilder- und Puppentheater. Wie in den Vorjahren bereicherte eine Budenstadt auf dem Vorplatz des Waschhauses eine Budenstadt mit 33 thematisch bunt gemixten Angeboten aus Wissenschaft, Kultur, Handwerk.
Während die Besucher – bis in den frühen Abend viele Familien, später dann tanzwütige Feierbiester – über ihr Kommen und Gehen selbst entscheiden durften, waren die zahlreichen Mitarbeiter der „Stadt für eine Nacht „im Dauereinsatz. Schlafen – ein Fremdwort. „Zeit ist höchstens für ein Power-Napping“, sagte Jessica Harmuth. Also gerade mal ein Nickerchen genehmigte sie sich. „Geschlafen wird erst ab Sonntagnachmittag wieder, dann aber bis Montagabend“, erzählte Julia Scheufler vom Waschhaus-Team fröhlich.
Mittendrin ein gut gelaunter, stolzer Tobias Wellemeyer, zwar „Spiritus rector“ der Stadt für eine Nacht, nicht jedoch ihr Bürgermeister: „Eine interessante Idee zwar, aber die Stadt bleibt besser ohne tiefgreifende politische Strukturen.“ Die Veranstaltung habe nach wie vor „viel mit selbst gemachtem Kuchen zu tun“, sagte Wellemeyer. Improvisation und ein Stück Anarchie wie beim Start vor fünf Jahren habe man behalten. „Wir wollen nicht alles so durchregeln.“ Eine Art „soziale Phantasie“ habe der Intendant mit der Stadt für eine Nacht schaffen wollen. Am liebsten würde Wellemeyer das Fest auf sieben Tage ausdehnen. „Das ist mein Traum.“
In sieben Tagen könnte beispielsweise die Schöpfungsgeschichte künstlerisch erzählt werden. Dafür bräuchte man etliche Partner, die Universität vielleicht. Geschätzte Kosten konnte Wellemeyer nicht nennen.
Während die Besucher die Stadt für eine Nacht bevölkern, wirkt die Schiffbauergasse sonst verlassen – obwohl mehr als 350 000 Besucher jedes Jahr aufs Kulturareal strömen, Ausstellungen und Aufführungen, Konzerte und Partys besuchen. Doch sie kommen nicht, um zu bleiben. Die Sanierung und der Umbau der früheren Militär- und Industriebrache zum Kultur- und Kreativviertel Schiffbauergasse wurde von der öffentlichen Hand seit Anfang der 1990er Jahre mit mehr als 100 Millionen Euro unterstützt. Das Areal kranke Wellemeyer zufolge an zu wenig gastronomischen Angeboten, „zu wenig Licht zwischen Oktober und März“ sowie an der mangelhaften Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.
Mehr Licht in die dunkle Schiffbauergasse soll Besucher zum Verweilen animieren, ebenso wie mehr Lokale. „Dafür könnte ein kommunales Förderprogramm aufgelegt werden“, so Wellemeyer. Etwa ein Drittel der Besucher kommen aus dem „bürgerlich-beschaulichen“ Südwesten Berlins, schätzt der Intendant. „Dieses Thema ist bei der Verkehrsplanung nicht bedacht worden. Die Schiffbauergasse wurde allein über den Potsdamer Hauptbahnhof geplant.“ Die Berliner kommen meist mit dem Auto – mangels anderer Möglichkeiten. „Eine bessere Taktung muss sich ja auch lohnen“, sagte Kulturfachbereichsleiterin Birgit Katharine Seemann.
Das eintrittsfreie 24-stündige Fest wurde 2012 als einer von bundesweit „365 Orte(n) im Land der Ideen“ ausgezeichnet. Die Stadt finanziert die Rund-um-die-Uhr-Kulturparty mit 140 000 Euro.
Zu jeder „Stadt für eine Nacht“ gehören – wie im sonstigen urbanen Raum – Beschwerden über Lärm dazu. Einige Bewohner aus der Berliner Vorstadt riefen an, monierten laute Musik. Wie viele Anrufe insgesamt eingingen, konnte Standortmanagerin Jessica Harmuth am Sonntag nicht sagen. Mehr als eine Handvoll seien es nicht gewesen. Ein Akustikmesser sei jedoch die gesamte Zeit vor Ort gewesen, um den Lärmpegel zu dosieren. „Das Wichtigste ist, Leben ins Kulturquartier zu bringen“, so Wellemeyer. Und da gehört nun mal Lärm dazu. Und der Müll, der sich je höher türmte, desto näher das Ende der Stadt rückte.
Von Ricarda Nowak