Literatur Daheimbleiben Depression Uni Potsdam

Es muss in den 1990er-Jahren gewesen sein, als auch hierzulande Cocooning als neuer Trend ausgerufen wurde. Plötzlich war das Einigeln in den möglichst gemütlich ausstaffierten eigenen vier Wänden eine akzeptable Gegenbewegung zu Party, Clubbing und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Basierte das Zurückziehen in die Privatsphäre damals noch auf völliger Freiwilligkeit, so sind wir in Zeiten der Covid-19-Pandemie dazu angehalten, es uns zu Hause bequem zu machen. Ein willkommener Anlass, sich mit dem Phänomen des privaten Rückzugs literarisch zu beschäftigen. Passenderweise bietet Anna Hordych, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, mit „Daheim bleiben“ in diesem Wintersemester am Institut für Künste und Medien ein Seminar zum Thema an. Die Nacht zum Tag machen: Schon im 19. Jahrhundert beschrieben Schriftsteller das Haus als eine Festung des Privaten gegen eine öffentliche oder gar feindliche Umgebung. Die Biedermeier-Epoche (1815 bis 1848) steht wohl kaum wie eine andere für die Abkehr vom politischen Leben hinein ins traute Heim. „Zahlreiche Texte des 19. Jahrhunderts stilisieren das eigene Heim als friedvollen Platz bürgerlicher Idylle. Doch nur äußerst selten lässt sich das häusliche Drinnen erfolgreich von dem abschirmen, was sich draußen abspielt“, informiert Doktorandin Anna Hordych. In Joris-Karl Huysmans Roman „Gegen den Strich“ (im Original „À rebours“) von 1884 zum Beispiel ist es ein reicher Adliger, der vor den Banalitäten in Paris aufs Land flieht und einem äußerst exzentrischen Lebensstil frönt. „Er macht die Nacht zum Tag und verliert sich allmählich in Halluzinationen und Neurosen“, so Hordych. Das Werk, das der Dekadenzliteratur zugeschrieben wird, gipfelt darin, dass dem Protagonisten die Rückkehr in die Großstadt dringend empfohlen wird, um der Abwärtsspirale aus Krankheit und Wahnsinn zu entkommen. Nur etwas für Reiche? Die Einsamkeit zelebrieren – ein Luxus, dem sich damals nur Reiche hingeben konnten? „Nein,“, erklärt Hordych, „in Ludwig Tiecks Novelle ,Des Lebens Überfluss‘ entzieht sich ein junges, frisch vermähltes Ehepaar der Gesellschaft und verschanzt sich aller finanziellen Mittel beraubt auf einem Dachboden.“ Irgendwann müssen die Adlige und der Bürgerliche, deren Liaison nicht gern gesehen wird, sogar die hölzerne Treppe zu ihrem Dachzimmer verfeuern, um nicht zu erfrieren. Die Rettung ist auch hier an eine Wiederaufnahme in die Gesellschaft gekoppelt. Indem der Ehemann unerwartet zu Geld kommt, können sie ihr Liebesnest verlassen und der prekären Isolation ein Ende bereiten. Ganz anders dagegen Oblomow, der Adlige aus dem gleichnamigen Roman von Iwan Gontscharow (1859 erschienen), der „nichts tut, außer auf seinem Diwan liegenzubleiben und sich in hoffnungsvollen Tagträumen zu verlieren“, wie es Anna Hordych zusammenfasst. Mit diesem lethargischen Zeugen einer überholten Aristokratie meint es das Schicksal am Ende nicht gut – zwei Schlaganfälle reißen ihn schließlich aus dem Leben. Und der Leser ahnt es schon: Dem süßen Nichtstun und Oblomows Schläfrigkeit liegt vermutlich eine dunkle Depression zugrunde. Später wird der Aspekt der Depressivität oftmals noch stärker thematisiert. In „Ein Mann der schläft“ von Georges Perec (1967 erschienen) ist es ein Student, der sich freiwillig in die Isolation begibt. Dem äußeren Leben steht er gleichgültig gegenüber, er lebt schließlich nur noch ein zeitloses Pflanzenleben, das ihm nichts beibringt und ihn zunehmend mit Alpträumen und Angstzuständen plagt – und zwingt sich am Ende doch wieder etwas zu wollen und ins gesellschaftliche Leben zurückzukehren. Neodekadenz in aktuellen Texten: In aktuellen Texten sieht Anna Hordych eine Neodekadenz auftauchen, die die Abkehr von der Welt begleitet. Darunter etwa Michel Houellebecqs Hauptfigur in „Serotonin“, im vergangenen Jahr erschienen. „Durch eine Erbschaft abgesichert, kann er sich in ein Hotelzimmer einmieten, ein denkbar steriles Zuhause, und mit Hilfe von Antidepressiva aus dem geregelten Alltag, der Welt fliehen und in Erinnerungen abdriften“, erklärt die Lehrende an der Uni Potsdam. Übrigens sind es nicht nur Männer, die den Rückzug proben. 2018 schrieb Ottessa Moshfegh „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, in dem sich eine junge Frau – wieder mit Unterstützung von Pharmazeutika –eine einjährige Auszeit vom hektischen New York gönnen möchte. Möglich ebenfalls nur, weil die 26-Jährige reich geerbt hat und ihren Job in einer New Yorker Galerie mühelos quittieren kann, um sich in ihrem Großstadtapartment gänzlich zu isolieren und in einen künstlich-komatösen Schlafzustand zu versetzen. „In beiden Fällen wird die Gesellschaft als Zumutung empfunden, persönliche Verhältnisse werden von heute auf morgen abgebrochen und gnadenlose Unverfügbarkeit und radikaler Rückzug an die Stelle zwischenmenschlicher Beziehungen gesetzt.“ Vorzüge und Gefahren des Zuhausebleibens: Was wir all den (Anti-)Helden, die in Anna Hordychs Seminar besprochen werden, voraushaben: Wir müssen das Aussetzen nicht planen. Durch die Corona-Pandemie sind wir kollektiv dazu aufgerufen, uns zurückzuziehen und zu schauen, welche Vorzüge, aber auch Gefahren, das Zuhausebleiben mit sich bringt. Vielleicht lässt sich die Zeit des Rückzugs mit der Lektüre eines der vorgestellten Bücher, die sich auch gut an Weihnachten verschenken lassen, etwas verkürzen. Einen kleinen Trost hält Anna Hordychs Reigen der Daheimbleiber auch bereit: „Keine Geschichte kann ausschließlich von der Geste der Isolation und Weltentfremdung leben“, sagt sie, „denn selbst eine Geste vollständiger Indifferenz ist eine Beziehung der Beziehungslosigkeit und baut irgendeine Relation zum Zustand draußen auf.“ So werden auch wir die Welt da draußen nicht ganz ausblenden. Von Claudia Braun