Potsdamer Bodo Riek wohnt im Generationenhaus an der Glienicker Brücke

Am 12. November 1989 gegen 9 Uhr greift Bodo Riek zur Werkzeugkiste. Das Schild, das die längste Zeit seines Lebens davor gewarnt hat, dass jetzt und hier das Grenzgebiet beginnt: Gehört es nicht irgendwie ihm? Bodo Riek lebt an der Glienicker Brücke. Um die 150 Meter sind es vom Schlagbaum bis zu seinem Elternhaus an der Berliner Straße. Hier ist er aufgewachsen. Hier hat er eine Familie gegründet. Hier will er bleiben. Bodo Riek ist heute 65 Jahre alt. Sein Elternhaus steht nicht mehr, aber er schaut noch immer jeden Morgen, Mittag, Abend auf die Glienicker Brücke. Er hat auf dem Grund und Boden, der seit mehr als hundert Jahren in Familienbesitz ist, ein Mehrgenerationenhaus gebaut. „Hier bin ich geboren. Und hier möchte ich mal rausgetragen werden“, sagt Bodo Riek. Er sagt auch: „Ich bin hier der Letzte meiner Art.“ Von all den Nachbarn, die einst vor dem Mauerfall im Umkreis der Brücke gewohnt haben, sei niemand mehr da. Nicht die Schulfreunde aus der Schwanenallee, nicht die aus der Menzelstraße. Und auch die vier Gärtnereien, die einst auf dem Glienicker Horn Blumen und Gemüse zogen, sind allesamt verschwunden. Familie Riek beobachtet von ihren Beeten aus Weltgeschichte: Die Familie des Vaters hatte eine dieser Gärtnereien gegründet. Chrysanthemen, Salat und Kohlrabi gedeihen zu Kaisers Zeiten genauso gut wie unter Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Die Grenzschließung 1961, die Öffnung ’89: Familie Riek beobachtet von ihren Beeten aus Weltgeschichte aus der ersten Reihe. Logisch, dass Bodo Riek zur Stelle ist, als Steven Spielberg im November 2015 für die Hollywood-Produktion „Bridge of Spies“ den Kalten Krieg nachbaut. „Sie haben alles richtig gemacht“, sagt Bodo Riek: „Fast.“ Einen Grenzturm hätte Spielberg an die falsche Stelle gerückt, ein paar Fahnen gehisst, die dort nie flatterten. Auch Bodo Riek ist als Knirps mal über die Brücke in den Westen gegangen. Die Erinnerungen daran sind schon lange verblasst – das Erlebnis, sagt er, war eben nicht bahnbrechend. Auch als die Brücke im Sommer ’61 plötzlich dicht ist, denkt sich der Junge von kaum sieben Jahren nicht viel. „Es war halt so“, sagt Bodo Riek. „Gestern war sie auf und heute war sie zu.“ Am Havelufer war die Welt zu Ende: Eine Kindheit und Jugend im Schatten des Todesstreifens: Für Bodo Riek ist es damals normal, dass die Welt am Havelufer zu Ende ist. Immerhin kann der Blick übers Wasser gleiten. Die Große Neugierde von Schloss Glienicke, die Mündung des Teltow-Kanals, Schloss Babelsberg. Drei Reihen Stacheldraht winden sich am Ufer entlang. Später steht dort ein Zaun. „Die klassische Mauer aus Beton hat es hier nie gegeben“, sagt Bodo Riek. „Auch damals war es schön hier. Und es war ruhig. Wir waren doch Kinder! Nur Baden und Angeln waren nicht drin, aber der Heilige See ist ja nicht weit.“ Dem Vater macht die Grenze viele Jahre Umstände. Er braucht die Havel, um die Gärtnerei zu bewässern. Im Frühjahr und im Herbst muss er Rohr und Pumpe kontrollieren, von angeschwemmtem Laub befreien, Wartungsarbeiten durchführen. Allein darf er nicht ins Niemandsland: Also laden ihn die Grenzer auf ihr Boot und schippern ihn zu der Stelle, an der das Rohr in die Havel lugt. Egal, wie lange seine Arbeit dauert: ein halbe Stunde, eine Stunde oder auch zwei – die Grenzer bleiben an Vater Rieks Seite. Den Fall der Mauer erlebt er nicht mehr. Im März 1989 stirbt er mit 66 Jahren. „Den Ausverkauf der Stadt finde ich sehr bedenklich“: Bodo Riek feiert am 14. September seinen 66 Geburtstag. „Jetzt muss ich aufpassen!“, sagt er mehr im Ernst als im Spaß. „Das Leben kann so schön sein – und ich mache mir das Leben schön.“ Dazu gehört: Bloß nicht aufregen! Ja, seine Zündschnur sei manchmal kurz. „Man muss sich öfter sagen: Ist mir egal!“ Potsdam allerdings, Potsdam ist ihm nicht egal. Die Entwicklung, die die Stadt seit der Wende genommen hat, beobachtet er kritisch. Natürlich habe Potsdam viel gewonnen: Seine alte Schönheit wurde bewahrt und aufpoliert, die Stadt entzückt, zieht Besucher an und solche, die für immer bleiben wollen. Aber ist das noch sein Potsdam? Bodo Riek zögert. Wie soll er’s sagen? „Ich mag Potsdam noch. Aber den Ausverkauf der Stadt finde ich sehr bedenklich.“ Er möchte das nicht weiter ausführen. Ein Zuhause für drei Generationen, ein sicherer Hafen: Von seinen Nachbarn kennt Bodo Riek heute kaum noch jemanden. Er zuckt mit den Schultern, als würde er das Egalsein üben. Er hat damals, als er einen Teil der Gärtnerei verkauft und auf dem anderen das Haus gebaut hat, wohl geahnt, dass sich sein Kiez und seine Stadt verändern würden. Also hat er ein Zuhause für drei Generationen geschaffen, einen sicheren Hafen für die, die ihm am Herzen liegen. Die Mutter ist in das Haus eingezogen – sie ist heute siebenundneunzigeinhalb und gern mit dem Rollator unterwegs. Die Schwester zog mit Ehemann und Tochter ein – heute ist sie Witwe, die Tochter in Hamburg. Bodo Riek und Ehefrau Marina sind mit der Tochter eingezogen – sie lebt heute mit ihrem Mann und den zwei Kindern in Töplitz. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Glienicker Brücke und der Villa Kampffmeyer sind auf der Halbinsel Glienicker Horn seit 1995 mehr als 30 Stadtvillen mit über 200 Wohnungen gebaut worden. Entstanden sind zwei Wohnanlagen: das vom Immobilienunternehmen Bayerische Hausbau errichtete weiße „Stadtpalais am Tiefen See“ und das ockerfarbene „Potsdamer Arkadien“ von der Investorengruppe Groth und Graalfs. Die hochwertigen Eigentumswohnungen liegen in einer parkähnlichen Landschaft und haben Balkone, Loggien und Dachterrassen. Beide Wohnanlagen sind umzäunt, wobei die Arkadien-Siedlung als erste Gated Community Deutschlands gilt. Dort überwachen Kameras das Gelände. Wer die Siedlung betreten will, muss sich beim Pförtner anmelden. Die Anlage stand in den ersten Jahren größtenteils leer, damals war von Brandenburgs teuersten Wohnungen die Rede. Von Anfang an war die Bebauung des Glienicker Horns, das im Weltkulturerbe der Unesco und in der Sichtachse zur Glienicker Brücke liegt, umstritten. Die Aberkennung des Welterbetitels drohte. nf Auch wenn es stiller geworden ist: Das Haus ist ein beliebter Treffpunkt, Besuch auf der sonnenbeschienenen Terrasse willkommen. Ein spontanes Hallo, ein Pläuschchen, eine Runde zum Geburtstag – das war nicht immer selbstverständlich. Als es die DDR noch gab, mussten Gäste mit wenigstens vier Wochen Vorlauf einen Passierschein „zum vorübergehenden Aufenthalt im Schutzstreifen“ beantragen. Die Liebe hat es unter diesen Umständen bestimmt nicht leicht gehabt. Zu dir oder zu mir – das konnte Bodo Riek schließlich nicht so einfach fragen, als er Ende der 70er seine Marina kennenlernte. Bodo Riek zwinkert: „Wenn man den ABVer und den Grenzer kennt... Geht nicht, gibt’s nicht – das ist bei uns noch heute noch so.“ Bevor er nach West-Berlin geht, hat Bodo Riek etwas zu erledigen: Der 12. November 1989 ist ein Sonntag. Die Glienicker Brücke ist seit zwei Tagen offen, in der Berliner Straße steht Trabi an Trabi an Trabi. Bodo Riek war noch nicht drüben. Er hat es nicht weit. Er könnte einfach losspazieren. Aber zuvor hat er etwas zu erledigen. „Grenzgebiet“ steht auf dem Schild. Schwarz auf Weiß. In deutsch, englisch, französisch und russisch: „Das Betreten und Befahren ist nur mit Sonderausweis gestattet.“ Bodo Riek schnappt sich erst den Schraubenzieher und dann einen roten Filzstift. Auf der Rückseite notiert er in Großbuchstaben „Original“, dazu Datum, Uhrzeit und Ort. Zwischen den Bohrlöchern unterschreibt er. Mehr als drei Jahrzehnte sind seither vergangen. Das Schild bewahrt Bodo Riek noch immer auf. „Meins!“, sagt er. Wem sonst sollte es gehören? Lesen Sie dazu auch: Wie Kai Diekmann zu seiner Villa am Tiefen See kam Das sagt ein Stadtentwickler über die Debatte ums Glienicker Horn Villa Kampffmeyer: „Wenn ich hierher zurückkehre, geht es mir wieder gut“ Maler Alfred Schmidt über die Berliner Vorstadt: „Es ist kein Flair mehr da“ Alle Kapitel unserer großen Potsdam-Serie lesen Sie unter: potsdam.maz-online.de Das Projekt „Potsdam ganz nah“ ist gefördert durch das Kartographen Mercator Stipendien-Programm für JournalistInnen – eine Initiative des gemeinnützigen Vereins Fleiß und Mut e.V. Von Nadine Fabian