Potsdamer "Ensemble LX" spielt Strindbergs "Pelikan"

Um 1900 herum schrieb August Strindberg Stücke, die den Eingang in den Literaturkanon fanden und die Bühne nachhaltig beeinflussten: „Nach Damaskus“, „Der Totentanz“, „Ein Traumspiel“. Nicht so schnell fällt Theaterliebhabern „Der Pelikan“ ein. Dabei gehört auch dieses Drama in die sogenannte produktive Phase des durchaus schwierigen Künstlers. Der Schwede hatte nicht nur Beziehungsprobleme, er litt zwischenzeitlich auch unter Wahnvorstellungen und Depressionen. Diese Erfahrungen flossen in all seine um die Jahrhundertwende geschriebenen Stücke mit ein. Auch der „Pelikan“ erzählt von krankhaften Familienbeziehungen und zerstörerischen Geschlechterverhältnissen. Das freie Potsdamer „Ensemble LX“ hat sich dieses weniger bekannten Strindberg-Stückes angenommen und führt es fünfmal im Kunsthaus „sans titre“ auf. Der Pelikan als Symbol unserer Tage: Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Symboltier „Pelikan“ bei der Darstellung von Müttern heute wieder aktuell ist. Nach der frühchristlichen Naturlehre spendet der Pelikan sein eigenes Blut, um seine Jungen, die er zuvor mehr oder minder in Notwehr erschlagen hat, wieder zum Leben zu erwecken. Ein Schelm, wer bei diesem Bild aus der Spätantike an die Helikoptereltern unserer Tage denken muss. Jedenfalls hat es zum Beispiel auch die Filmregisseurin Katrin Gebbe wieder aufgegriffen, um in „Pelikanblut“ Nina Hoss als sich selbst aufopfernde Mutter zu inszenieren. Strindberg hatte um die Jahrhundertwende dieses Pelikanbild ins Gegenteil verkehrt. Er setzte eine selbstsüchtige Mutter ins Zentrum seiner Handlung. Statt sich zu opfern, beutet sie ihre Familie aus und enthält ihren Kindern praktisch alles vor, was zu einem zumutbaren Leben gehört. Sie pflegt sogar eine sexuelle Beziehung mit ihrem Schwiegersohn, die obsessive Züge hat. Erst ein Brief des toten Vaters, der so aus dem Grab heraus zu den Kindern spricht, weckt die bis dahin Duldsamen aus ihrer Lethargie. Der Sohn wittert eine Verschwörung. Plötzlich entwickeln die Kinder Rachegelüste. Lesen Sie auch: Potsdamer hinterlassen Fußabdrücke fürs Demokratie-Denkmal Festival der Neuen Musik im Kunsthaus Sans Titre „Ich finde, dass das eine besonders radikale Familiendarstellung ist, die durchaus auf absurde Weise, zwiespältige menschliche Gefühle zutage fördert“, sagt der Potsdamer Regisseur Richard Jourdant. In seiner Inszenierung habe er den Blick besonders auf die Figur der Mutter gerichtet. „Die Mutter erscheint einmal als Heilige oder als Hexe, das sind ziemlich archetypische Bilder.“ Strindbergs „Pelikan“ sei daher besonders geeignet, unser Bild von der Mutter zu thematisieren. Frauen kapern die Bühne: Dabei würden in der Inszenierung des „Ensembles LX“ bewusst sämtlich Rollen von Frauen gespielt. „Grundsätzlich sind Frauen im Theater unterrepräsentiert“, sagt Jourdant. „Gerade ältere Frauen verschwinden von der Bühne.“ In der „LX“-Produktion sollen nun vier gestandene Frauen die Bühne förmlich kapern, um eine völlig neue Sicht auf das Strindberg-Stück zu ermöglichen. Bei der neuen Potsdamer Inszenierung gehe es nicht um eine naturalistische Darstellung eines Geschehens, sondern um Abstraktion. „Allgemein ist das Thema Frau besonders im Rahmen der MeToo-Debatte wieder aufgebrochen“, erläutert Jourdant. Hinter feministischer Folie betrachtet der Regisseur auch Strindbergs „Pelikan“-Mutter. Sie erscheine nicht zuletzt so böse, weil sie nicht den Erwartungen entspreche und sich Freiräume nehme. Dabei sei die Vorlage keineswegs eindimensional, sondern ließe viele Deutungen offen. „Man weiß nie genau, was wirklich passiert ist, was nur Erwartung, was Realität war.“ Sie wollen immer bestens informiert sein, was sich in Ihrer Stadt verändert, aber nicht ständig die News checken? Dann haben wir genau das Richtige für Sie: Unseren kostenlosen Newsletter „Potsdam ganz nah“. Zweimal wöchentlich nehmen wir Sie mit auf einen Streifzug durch die Landeshauptstadt und geben Ihnen einen Überblick über die wichtigsten Nachrichten. Aber wir blicken auch hinter die Kulissen. Ehrlich, persönlich und zuverlässig recherchiert. Ganz nah dran eben. Der kostenlose Newsletter erscheint immer dienstags und freitags und Sie können ihn hier abonnieren. Bei der Potsdamer Inszenierung mit feministischem Dreh geraten die festen Grenzen von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge im Laufe der Handlung immer mehr ins Wanken. Damit spielt Jourdant auf eine weitere wichtige Erfahrung unserer Tage an. Premiere hat die Aufführung kommenden Freitagabend, 25. September, um 19.30 Uhr im Kulturhaus Sans Titre. Weitere Vorstellungen: 26.9, 2.10. und 3.10., jeweils um 19.30 Uhr und am 27.09 um 17.30 Uhr sowie am 4.10. um 11 Uhr im Kunsthaus Sans Titre, Französische Straße 18. Karten post@ensemble-lx.de, unter 0331/6200331 oder www.sans-titre.de. Die Plätze sind coronabedingt stark begrenzt. Von Rüdiger Braun