Potsdamer Nomadenland: Wie Matthias Michel den Neuanfang wagte

„Um den Jurten-Burnout zu verhindern, war es vielleicht auch ganz gut, dass es am Anfang nicht so gut lief“, sagt Matthias Michel, „Landesvater“ des Nomadenlands im Potsdamer Volkspark. Als er 2009 aus seinem Beruf als Systemelektroniker ausstieg, hatte er zwar reichlich Ideen – doch keinen genauen Plan, wie er es fertigbringen würde, „Vollzeit-Jurtist“ zu werden. Eine Dekade später gehören seine kirgisischen Jurten unzertrennlich zum Landschaftsbild des Volksparks. Entflammt ist Michels Leidenschaft für die Nomadenzelte als Folge einer anderen Obsession: Berge zu erklimmen. „Damals hat mich Sport ziemlich definiert“, erinnert er sich heute. „In der Mittagspause, zwischen dem Montieren, habe ich mir den höchsten Punkt in der Umgebung rausgesucht und bin rauf und wieder runter gerannt.“ Im Flachland sei es gar nicht so einfach, sich fürs Bergsteigen vorzubereiten – doch es findet sich immer ein Weg, sagt Michel. „Wenn ich für die Arbeit mit dem Auto unterwegs war, habe ich immer Ausschau gehalten nach Hügeln, auf die ich rauf könnte.“ 500 Überstunden – und dann kein Geld dafür: Doch gerade dieser Beruf habe sich schlecht mit seiner Leidenschaft vereinbaren lassen. „Ich habe in acht Monaten so viel gearbeitet, wie andere in einem ganzen Jahr, und in einem Jahr 500 Überstunden gemacht“, sagt Michel. Als dann auch noch „als Dankeschön“ die Bezahlung für die Überstunden ausblieb und sich das ewige Herumfahren auf seine Gesundheit auszuwirken begann, beschloss er, es sei endlich Zeit, was zu verändern. Lesen Sie mehr: Mellow Mark gewann den Echo, sang bei Stefan Raab – und ist jetzt Rettungssanitäter Potsdamerin verwirklicht Plan B und fährt jetzt Pferde-Taxi Grube – der perfekte Ort für Gänse, Schweine, Bauern und Plan B „Ich kam mir langsam schon etwas verarscht vor“, sagt Michel, „und habe dann auch einen Schlussstrich gesetzt.“ Auch wenn ihm der Beruf bis auf die Arbeitsbedingungen eigentlich Spaß gemacht hat, war im Hinterkopf immer die Überlegung: Was wäre, wenn. „Bei dem ganzen Autofahren hatte ich viel Zeit, über Dinge nachzudenken. Und ich war auch schon ende Dreißig, da dachte ich mir – wenn nicht jetzt, wann dann?“ Mit „hätte ich“ könne er gar nicht leben, meint Michel. Schließlich kam ihm die Firma mit der Kündigung eine Woche zuvor. „Da war das Ding dann auch gegessen.“ Seitdem er im Sommer 2008 in Kirgistan versucht hatte, den 7134 Meter hohen Berg Pik Lenin zu erklimmen, hatte sich Michel in dieses Land und seine Kultur verliebt. Besonders die Jurten verzauberten ihn: „Die Gastfreundschaft der Leute passt so gut zu der Atmosphäre da in der Jurte – und mir als Ökofuzzi gefiel auch, dass alles aus Naturmaterial war.“ So beschloss er, sich seine eigene Jurte nach Deutschland zu holen. Schlaflose Nächte: „Ich habe durchgezählt, wie viel Geld ich übrig hatte, und mir dann ein altes Auto gekauft“, erinnert er sich. „Da dachte ich mir – fährst du halt nach Kirgistan und bringst eine Jurte mit, ganz einfach.“ Dazu kam es dann zwar aufgrund logistischer Schwierigkeiten nicht, und als dann im Land auch noch Unruhen ausbrachen, rückte der Traum in noch größere Ferne. „Da hatte ich dann auch viele schlaflose Nächte, das war schon ziemlich – uff“, erinnert sich Michel heute. Doch er gab sich nicht geschlagen. „Bei mir musste es immer gleich die ganze Nummer sein“, sagt er. „Mein erster Wettlauf war gleich ein Marathon, kein Zehn-Kilometer-Lauf, und mein erster Berglauf der Zugspitzenlauf.“ Schließlich rettete ein in Kirgistan geborener Russlanddeutscher, den Michel kennenlernte, die Geschichte. Durch ihn gelangten die ersten zwei echt kirgisischen Jurten aus Zentralasien in den Volkspark. Der Anfang war auch in Potsdam noch holprig. Aus seiner Wohnung machte Michel eine Wohngemeinschaft, und auch privat sparte er stark, um den Traum von den Jurten zu verfolgen. „Gut lief es damals noch nicht“, sagt er. Seine Freunde und Familie hatten ihm von seiner waghalsigen Idee abgeraten. „Mein Vater sagte, ‚denk an deine Rente! Tu das nicht!‘, und auch von meinen Freunden hat eigentlich keiner dafür gesprochen, auch wenn sie mir das nicht immer so direkt ins Gesicht gesagt haben.“ Heute staunen sie, was aus seiner Idee geworden ist, sagt Michel. „Rückblickend bin ich mit meiner Entscheidung eigentlich total zufrieden.“ Das Nomadenland ist auch mehr als ein Hobby oder Beruf, nämlich ein wahres Jurten-Leben geworden: „Ich habe zwar noch ein WG-Zimmer, doch eigentlich bin ich immer hier und schlafe auch in den Jurten.“ Das habe den Vorteil, dass er auch in schlechten Zeiten eigentlich nicht wirklich obdachlos werden könne, sagt Michel. Selbst wenn das Nomadenland in Potsdam den Bach runter ginge, würde er sich ein neues Grundstück besorgen und dort die Jurten neu aufbauen. Mehrere Berufe gleichzeitig: Mit den Jahren hat das Jurten-Business an Schwung gewonnen, sagt Michel. Das Schöne sei, dass er jetzt eigentlich viele Berufe auf einmal ausübe. Eventmanager, Gastronom, Veranstalter, Gärtner, Handwerker und Buchführer zu sein gehöre zum Alltag. „Leider ist es nur meistens alles gleichzeitig, und immer dann, wen man gerade keine Zeit oder keinen Bock hat.“ Auch die Symbiose mit Volkspark und Stadt funktioniere gut, selbst wenn es anfangs ab und an zu einigen Missverständnissen gekommen war. So stand etwa, als er sein Gewerbe gerade auch als Imbiss eingetragen hatte, das Gesundheitsamt vor der Tür. „Da war hier noch nicht einmal eine Jurte, und die wollten meine Küche sehen.“ Mit etwas Erklären und einigen ungläubigen Blicken habe sich aber auch dies schnell lösen lassen. Am liebsten, sagt Michel, hätte er mit solchen Dingen gar nichts zu tun. „Ich will mich nicht mit alltäglicher Politik und so beschäftigen – aber ärgere mich dann schon, wenn ich was lese.“ Auch auf Facebook und Instagram sei er. „Aber am besten sollte ich das alles deabonnieren.“ *** Sie haben die Krise als Chance begriffen und einen neuen Job begonnen? Sie haben bereits viel früher den Schritt gewagt und ihren Job an den Nagel gehängt, um sich einen Traum zu erfüllen? Oder kennen Sie jemanden, der aus einem Ende einen vielversprechenden Neuanfang gemacht hat? Melden Sie sich gern telefonisch unter 0331/2 84 02 63 oder per E-Mail an potsdam-stadt@MAZ-online.de Von Linus Höller