Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert im Interview zur Corona-Krise "Wie lange halten wir das noch durch, Herr Schubert?

Mike Schubert (SPD) hatte im zweiten Jahr seiner Amtszeit als Potsdamer Oberbürgermeister vor allem mit der Bekämpfung der Corona-Krise zu tun. Die MAZ hat mit ihm über die aktuelle Lage, das Jahr 2020 und den Ausblick auf die Zukunft gesprochen. Herr Schubert, die Corona-Neuinfektionen erreichen fast täglich neue Rekorde, beide Krankenhäuser sind am Limit und wenn man den Prognosen glaubt, wird die Zahl der schwerkranken Covid-Patienten weiter steigen. Wie lange schaffen wir das in Potsdam noch? Mike Schubert: Das Schlimme ist: Die aktuelle Situation in den Krankenhäusern ist nur der Blick in den Rückspiegel. Wir haben jetzt so viele aktuelle Neuinfektionen, dass es tatsächlich sehr eng wird. Dabei dürfen wir aber nicht nur auf Potsdam schauen. Wir sind ein Verbund, eine Gesundheitsregion, wir müssen Brandenburg und Berlin gemeinsam betrachten. Und ja, in den nächsten Wochen wird es weiterhin ganz schwierige Entscheidungen in allen Krankenhäusern geben. Und auch in den Stäben der Städte, die vor Ort Verantwortung tragen. Wir alle kennen die Bilder: Überfüllte Krankenhäuser in Bergamo, Leichenwagen in New York, Rettungswagen, die vor überfüllten Krankenhäusern in Neapel Schlange stehen. Können Sie uns versprechen, dass uns das in Potsdam erspart bleibt? Man sollte mit Versprechen, was Bilder in der heutigen Mediengesellschaft betrifft, sehr vorsichtig sein. Was ich versprechen kann: Die Mitarbeiter im städtischen Ernst-von-Bergmann-Klinikum tun und im St-Josefs-Krankenhaus buchstäblich alles Menschenmögliche, damit wir solche Bilder nicht erleben müssen. Aber das ist keine Garantie, das kann sehr schnell anders aussehen. Das haben wir in diesem Jahr schon einmal erlebt. Die Mitarbeiter in den Potsdamer Kliniken sind nach diesem Jahr fast am Ende. Die Kliniken suchen händeringend nach Personal, nicht nur in der Pflege. Könnten dort nicht Angestellte der städtischen Unternehmen, die in Kurzarbeit sind, aushelfen? In den Kliniken brauchen wir vor allem Personal, das auf den Intensivstationen und in der Pflege helfen kann. Da denke ich nicht zuerst an die Kollegen der kommunalen Unternehmen. Die aktuelle Pandemie ist eine nationale Gesundheitslage. Eine Option wäre, dass Sanitätskräfte der Bundeswehr, die in Berlin stationiert sind, auch im Land Brandenburg aushelfen könnten. Damit wäre uns eher geholfen als mit Menschen ohne medizinische Vorbildung. Unsere Einsatzreserve in Potsdam sind Mitarbeiter der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes. Das ist nicht mehr viel. Der Lockdown light hat nicht funktioniert. Kam der harte Shutdown zu spät? Am Ende der pandemischen Situation werden wir wissen, welche Entscheidung zu welchem Zeitpunkt richtig gewesen wäre. Manchmal muss es schnell gehen. Zugleich haben wir lange versucht, einheitlich vorzugehen. Es gibt einen breiten Kanon der Meinungen. Ich denke, Gesundheitsminister Jens Spahn hat mit einem Satz Recht: Wir werden uns nach der Pandemie eine Menge zu verzeihen haben. Hätten Sie als Oberbürgermeister früher reagieren sollen? Erinnern Sie sich an Halloween. Da habe ich bei den damals niedrigen Inzidenzwerten einen Sonderweg erwogen – und das allein hat schon zu Kontroversen geführt. Wir merken in diesem Jahr etwas völlig Menschliches: Jeder möchte so viel wie möglich von seinem normalen Leben retten. Als wir den Weihnachtsmarkt verboten haben, sind die Händler kreativ geworden und haben sich die Glühweinstände ausgedacht. Dann haben wir nachreglementiert und es kam zum To-Go-Verkauf. Im Spannungsfeld zwischen Eingriff und Freiheit ist mir dieser Weg des Nachreglementierens allerdings lieber, als zu restriktiv zu sein. Stichwort Freiheit: Was halten Sie davon, für die Kontaktnachverfolgung von Infizierten verstärkt Handydaten zu nutzen – Vorbild Südkorea. Der Datenschutz ist ein sensibles Thema in Deutschland. Ein Eingriff dort wäre für mich immer der letzte Schritt. Sind wir nicht vor dem letzten Schritt? Vielleicht, deswegen kommen wir aber nicht aus der Abwägungsentscheidung heraus. Unsere Gesetze sind auf eine pandemische Situation nicht eingestellt. Und es ist auch gut, dass es staatliche Eingriffsgrenzen gibt. Was ist denn ihre persönliche Meinung zu dieser Abwägung? Würden Sie eine Corona-App mit den erweiterten Funktionen und Datenübertragungen nutzen? Ich als Privatperson Mike Schubert kann mit der Eingrenzung meiner Persönlichkeitsrechte in dieser Situation leben, weil für mich der Gesundheitsschutz aktuell über allem steht. Ich werde mich auch impfen lassen, sobald ich darf. Ist Potsdam denn in der Lage, den Shutdown durchzusetzen? Ordnungsamt und Polizei können und müssen das durchsetzen. Wie soll das zum Beispiel zu Silvester gelingen? Es wird nicht an jeder Ecke ein Polizist stehen können. Die Regeln gelten trotzdem, wie im Straßenverkehr auch. Wenn wir Leute erwischen, wird es Konsequenzen geben – nach den neuen Vorschlägen für Bußgeldhöhen ein teures Unterfangen. Im Sommer gab es Zeit, sich auf die zweite Welle vorzubereiten. Pflegeheime konnten ihre Hygienepläne in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt anpassen. Warum ist es trotzdem nicht gelungen, diese vielen Ausbrüche, wie wir sie jetzt erleben, zu verhindern? Wir haben in Potsdam im Frühjahr gesehen, wie schnell das Virus in Einrichtungen um sich greifen kann. Da reicht eine Person, die unachtsam war, sich nicht richtig geschützt, sich nicht an die Regeln gehalten hat. Selbst im Klinikum, wo wir mit der Erfahrung aus dem Frühjahr, sehr engmaschig testen, treten jetzt noch einzelne Fälle aus dem privaten Umfeld auf. Wir reden bei den Pflegeheimen aber nicht über einzelne Fälle, sondern massive Ausbrüche. Sie haben als Stadt immer wieder den Schutz der Risikogruppen betont, warum ist Ihnen das nicht gelungen? Es gibt klare Regeln was Besuche oder Kontakte in den Heimen angeht, die sind auch immer wieder verschärft worden. Für die Umsetzung und Einhaltung dieser Regeln sind die Einrichtungen verantwortlich. Es ist aber in dem Maße gelungen, dass wir im Landesvergleich zwar eine schwierige Situation haben - aber das ist kein Vergleich zur Lausitz, zu Berlin und zu Sachsen. Ich glaube, die Potsdamer sind nach dem Corona-Ausbruch im Frühjahr vorsichtiger als die Menschen anderswo. Und ich habe das Gefühl, dass das Gros der Bürger hinter den verschärften Maßnahmen steht. Ich muss trotzdem nochmal den Finger in die Wunde legen: Es war absehbar, dass es wieder Einschränkungen bei Schulen und Kitas gibt. Warum ist die Kommunikation so chaotisch gelaufen? Da kann ich nur für Potsdam sprechen. Wir haben klar angekündigt, die Präsenzpflicht ab der 7. Klasse auszusetzen. Wir haben dies in Potsdam auch nicht erst von Sonntag auf Montag getan. Es gab dann am Sonntag eine absolut dynamische Situation, als die freiwilligen Maßnahmen in den Schulen von Land und Bund dazukamen. Einen so kurzen Zeitvorlauf hatten wir noch nie. Das hat bei vielen Eltern zu Verunsicherung geführt. Zu der schwierigen Lage am städtischen Klinikum kommen die Nachwehen der Corona-Affäre aus dem Frühjahr, noch immer sind nicht alle offenen Fragen geklärt. In wenigen Tagen wird die Untersuchungskommission den Bericht zum Corona-Ausbruch übergeben. Was erwarten Sie? Ich gehe davon aus, dass sich Aufsichtsrat und auch Hauptausschuss im Januar und Februar damit befassen werden und wir eine Menge gute Hinweise bekommen werden, wie wir uns im Klinikum besser aufstellen müssen. Es wird viele Ratschläge zur Unternehmenskultur geben. Wir wissen, dass wir da nachzusteuern haben. Auch die Frage des baulichen Zustands des Gebäudes wird sicherlich ein Thema sein. Ein weiteres Ergebnis könnte sein, dass das Klinikum dringend eine neue medizinische Geschäftsführung braucht, die ja gerade unbesetzt ist. Ist das in der aktuellen Situation nicht gefährlich? Das Krankenhaus hat mit Christian Kieser einen Ärztlichen Direktor. Viele Häuser haben gar keine medizinische Geschäftsführung. Aber es ist richtig: Wir müssen uns auch dort neu aufstellen und die Vorschläge der Kommission anschauen. Sie haben die Entscheidung zur Besetzung der Geschäftsführung mit Hans-Ulrich Schmidt und Tim Steckel getroffen, bevor der Bericht vorliegt. Warum konnten Sie den nicht abwarten? Dafür gibt es mehrere Gründe, die ich der Kommission auch erklärt habe. Die Vertragssituation der ehemaligen Geschäftsführer war an einem Punkt, an dem klar war: Wir müssen uns jetzt trennen. Außerdem gibt es gerade jetzt ein großes Spannungsverhältnis: Einerseits wollen wir Ruhe ins Klinikum bringen, andererseits sind wir in einer wirtschaftlich sehr angespannten Situation. Da habe ich in Absprache mit dem Aufsichtsrat und nach Information des Hauptausschusses entschieden, die Geschäftsführung dauerhaft zu besetzen. Und wenn bei Herrn Steckel nicht sehr kurzfristig eine juristische Frage dazwischen gekommen wäre, hätten der Aufsichtsrat und ich als Gesellschafter auch seinen Vertrag für fünf Jahre verlängert. Mit der juristischen Frage meinen Sie, dass die Staatsanwaltschaft wegen Medikamentenbetrugs gegen Herrn Steckel ermittelt. Ja, das kam sicherlich zu einem Unzeitpunkt. Für alle Beteiligten – auch den Betroffenen selbst. Aber wenn sich am Ende die Personalvertretung, die Ärzte, der Aufsichtsrat und der Gesellschafter hinter Herrn Steckel und Herrn Schmidt stellen, spricht das für die Beiden. Umso schwieriger war es, Herrn Steckel noch nicht endgültig besetzen zu können. Blicken wir auf Weihnachten, viele Potsdamer stehen aktuell vor der schwierigen Entscheidung, ob sie ihre Verwandten besuchen können - ob Herz oder Vernunft gewinnt. Was raten Sie? Ich trenne nicht zwischen Herz und Vernunft. Gerade weil ich meine Eltern liebe, treffe ich die Entscheidung, Weihnachten in diesem Jahr nicht mit meinem Vater, sondern nur mit meiner Frau und unseren beiden Kindern zu feiern. Dieser Virus macht an Weihnachten keine Pause. Ich unterschreibe, was die Bundeskanzlerin gesagt hat: Dieses Jahr sollten wir alle die Kontakte, soweit es irgend geht, reduzieren. Da müssen Herz und Verstand zusammenwirken. Corona hat in diesem Jahr alles überlagert. Viele Projekte konnten Sie nicht in dem Tempo vorantreiben, das Sie für nötig erachten. Welches Projekt tut Ihnen, tut der Stadt am meisten weh, weil es nicht vorangekommen ist? Ich habe letztes Jahr im Interview mit Ihnen gesagt, dass ich fest damit rechne, dass Potsdam mir auch dieses Jahr wieder viele schöne Dinge vor die Tür legen wird, mit denen ich zu tun habe. Schöne Dinge gab es nicht zusätzlich, ganz im Gegenteil. Daher sind viele Projekte wie die Tram nach Krampnitz, die Modernisierung des Rathauses, der Wohnungsbau oder eine Lösung im Streit um die Garnisonkirche zwar vorangegangen, aber langsamer als geplant. Andere, wie die Neubesetzung von Stellen im Rathaus, sind trotz Pandemie sehr gut gewesen. Wir hatten in den vergangenen Jahren noch nie so viele Mitarbeitende wie derzeit, um die Aufgaben zu bewältigen. Und auch bei der paritätischen Besetzung von Führungskräften haben wir unseren Anspruch umgesetzt. Inzwischen sind neun von 20 Fachbereichsleitungen mit Frauen besetzt. Die Pandemiebekämpfung hatte aber dieses Jahr absolute Priorität. Und viele Mitarbeiter der Verwaltung haben plötzlich Aufgaben, die sie nie zuvor hatten. Die Kontaktverfolgung von Infizierten zum Beispiel. Und welches Projekt tut nun der Stadt, tut Ihnen am meisten weh? Da gibt es kein spezielles Projekt. Weh tut vor allem, dass es immer noch Menschen gibt, die die Existenz und Gefahr des Virus verleugnen und nichts dazu beitragen, es einzudämmen, während in den Krankenhäusern Menschen gegen das Virus ums Überleben kämpfen. Auch Sie persönlich mussten in diesem Jahr heftige Kritik einstecken, umstrittene Maßnahmen verteidigen. Hinzu kamen viele Wochen ohne Wochenende, Tage ohne Feierabend, Beleidigungen in den sozialen Netzwerken. Wie sehr hat Ihnen 2020 zugesetzt? Da muss ich noch mal auf den Spruch von Jens Spahn verweisen. Was Ton und Umgang betrifft, müssen wir uns nach der Pandemie eine Menge verzeihen. So wird das auch bei mir sein. Es gab sicherlich auch Reaktionen meinerseits, die ich im Nachhinein und mit der nötigen Ruhe kritisch betrachte. Dazu stehe ich aber. Was mir Sorgen macht, sind beleidigende, aggressive und ehrabschneidende Umgangsformen. Im gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland wünsche ich mir, dass wir wieder zu einem normalen Ton zurückkehren. Das war schon vor der Pandemie schwierig, hat sich aber seitdem verselbstständigt. Wie gut sind Sie denn im Verzeihen, Herr Schubert? Eigentlich ganz gut. Jeder vergreift sich mal im Ton. Am Ende wollen wir alle miteinander weiterarbeiten. 2020 hat Sie auch persönlich hart getroffen, Sie sind mehrere Wochen mit einer schweren und sehr schmerzhaften Augenverletzung ausgefallen, mussten die Zügel anderen überlassen. Wie schwer ist Ihnen das gefallen? Das hatte ich noch nie in meinem Leben, dass ich so lange zum Nichtstun verdammt war. Für jemanden wie mich, der gerade so viel umsetzen will, war das verdammt schwer. Gerade im Sommer, als die Belastung durch das Virus geringer war, wollte ich viele Dinge vorantreiben. Ich glaube, viele werden über 2020 sagen können, dass sie dieses Jahr verändert hat. Man merkt, wie schnell man in eine Situation kommen kann, in der sich alle Lebensumstände verändert haben. Das macht einen auch ein Stück demütig. Wie hat Sie das persönlich verändert? In meinem Leben gab es schon den einen oder anderen Bruch. Und auch aus dieser Erfahrung werde ich wieder etwas herausziehen. Was denn? Ich nehme sicher mit, manche Dinge mehr zu genießen und nicht gleich nach der nächsten Aufgabe zu schauen. Auch mal innehalten. Sich darüber freuen, etwas geschafft zu haben. Innehalten? Das verbinden wohl die wenigsten mit Ihnen. Das ist auch viel Legende. Was mir tatsächlich gefehlt hat, war der Sport, um zur Ruhe zu kommen. Fast ein halbes Jahr konnte ich wegen meiner Augenerkrankung keinen Sport machen. Kein Jahresende ohne Ausblick: Herr Schubert, was erwartet Potsdam 2021? Erstmal gibt es 2021 die gleiche Aufgabe wie 2020. Nämlich aus dieser Pandemie herauszukommen. Nun wird es bald mit den Impfungen losgehen. Wenn die Prognosen stimmen, können wir im Sommer wieder das eine oder andere Fest miteinander feiern. Aber sicher weiß ich nicht, ob es so kommt. Und worauf freuen Sie sich persönlich am meisten? Da gibt es viele Sachen: Weggehen. An einem Lauf teilnehmen. Einer der häufigsten Sätze derzeit ist doch: „Wir wollen unser normales Leben wieder haben.“ Das gilt für mich genauso. Glauben Sie, dass uns das 2021 gelingt? Ich habe die feste Hoffnung, dass wir zumindest ein Stück der Normalität zurückbekommen. Unsere Lehre sollten wir aus diesem Sommer ziehen und nicht allzu unbeschwert in den darauffolgenden Herbst gehen. Von Anna Sprockhoff und Peter Degener