Schicksal in Potsdam: Ines Ganse mit Secand Hand Laden überlebt ein Gehirnaneurysma Gehinblutung

Der Tag, an dem Ines Ganse dem Tod ins Auge schaut, beginnt wie jeder andere. Es ist der 4. September 2019, das Wetter ist schön, Ines Ganse lässt die Tür zu ihrem Second-Hand-Geschäft in der Karl-Liebknecht-Straße offen stehen. Ihre blonde eineinhalbjährige Labrador-Hündin Gerda liegt auf der Schwelle und beobachtet das Treiben auf der Straße. Ganse sitzt am Verkaufstresen und betreibt Preisrecherche bei E-Bay für gerade angelieferte Second-Hand-Ware. Doch dann, ganz plötzlich, spürt sie einen Schmerz im Kopf, den sie bis heute nicht beschreiben kann. „Nicht vergleichbar mit normalen Kopfschmerzen“, sagt sie, „und er dauerte nicht lange.“ Sie sei aufgestanden und sofort umgekippt. „Das Bewusstsein habe ich nicht verloren. Aber ich konnte auch nicht wieder aufstehen.“ Ein gutes Jahr später, Ines Ganse spricht am Telefon über den 4. September 2019, ihre Stimme ist fest. Die 55-Jährige klingt nach einer lebenshungrigen Frau. An viele Details ihrer Erlebnisse kann sie sich nicht mehr erinnern. Auch nicht, wie lange sie am Boden ihres Geschäftes lag. „Immer wenn Gerda draußen liegt, kommt gegen Feierabend mein Nachbar Michael Schramm, um sie zu streicheln“, erzählt Ganse, „ich habe ihn gehört und laut ,Micha’ gerufen.“ Sie brauche keinen Notarzt, versicherte sie ihm. „Ich war ja nur umgefallen“, erzählt Ganse. Er solle ihren Partner anrufen, bittet Ines Ganse. Als der eine halbe Stunde später kommt, lässt er sich von seiner Freundin nicht beirren, ruft sofort einen Rettungswagen. Als der da ist, will Ines Ganse nicht mitfahren. „Die Notärztin war tough“, so Ganse, „die sagte: ,Ok, ihre Entscheidung, wir können Sie nicht zwingen, aber wenn Sie hierbleiben, sind Sie in den nächsten zehn Minuten tot.’“ Gehirnbluten – so die Diagnose der Notärztin. Ganse zählt zu den fünf Prozent der Überlebenden: Die Golmerin kommt ins Ernst-von-Bergmann-Klinikum, kann stabilisiert werden, einen Tag später geht es ins Vivantes-Klinikum nach Berlin-Neukölln. Spezialisten sind gefordert. Bei Ines Ganse ist ein Gehirnaneurysma geplatzt, jene kleine kugelförmige Ausbuchtung an einer Verzweigungsstelle der Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen. Lesen Sie auch: Todkranke Pia (7) hat den Kampf gegen den Krebs verloren Yvonne hat LRS: „Man kann immer etwas!“ Omi-Opi-Haus: In die Potsdamer Demenz-WG ist der Alltag zurückgekehrt In der Regel laufen Menschen mit Aneurysmen umher, ohne es zu wissen. Zum Problem werden sie, wenn sie platzen. Zu einem besonders großen Problem werden sie, wenn sie, wie bei Ines Ganse, an einer komplizierten Stelle platzen. „Zwei Ärzte in Deutschland sind auf die Operation, die ich brauchte, spezialisiert. Einer von ihnen hat sie in Neukölln durchgeführt“, erzählt sie. Die geplatzte Stelle wird mit einer Art Zange geklammert. Ganse sagt: „95 Prozent der Patienten, die ein Aneurysma an der Stelle haben, wo ich es hatte, überleben das nicht.“ Die Ärzte wussten nicht, ob sie überleben würde: Die Operation verläuft, wie sie das Ärzteteam geplant hat. „Sie konnten sich trotzdem nicht festlegen, ob die OP erfolgreich war. Die Ärzte konnten nur abwarten“, sagt Ines Ganse. Erst nach zehn Tagen können sie ihrer Familie sagen, dass sie überleben wird – jedoch nicht wie. Insgesamt sechs Wochen muss die Potsdamerin auf der Intensivstation beobachtet werden. Eine Zeit, die sie gehasst hat, wie Ines Ganse erzählt. „Ich mag Krankenhäuser nicht. Ich wollte da so schnell wie möglich raus.“ Schläuche ragen aus ihrem Kopf, permanent piepen die Geräte. „Und jede Stunde kamen die Pfleger rein und fragten mich, wie ich heiße. Das war enorm nervenzehrend.“ Nach der Intensivstation folgt nur eine Woche auf der normalen Station. „Ich bin super viel rumgelaufen. Ich war die Läuferin vom Vivantes.“ Hatte sie Angst? In Momenten, wie dem Aufwachen nach der ersten OP? „Nein“, sagt Ines Ganse sofort, „ich wusste ja nicht, was mit mir los war. Ich wusste nicht, dass ich ein Aneurysma hatte. Ich glaube auch, dass das Gehirn in solchen Situationen für das Gefühl der Angst wichtige Stellen ausschaltet, quasi als Schutzmechanismus.“ Wie durch ein Wunder hat sie keine neurologischen Schäden davon getragen. Nur die physische Leistungsfähigkeit hat gelitten. Die Folgen der sechs Vollnarkosen machen ihr bis heute zu schaffen. Sie ist schnell erschöpft. Kann nichts schweres heben. Ihr Laden hat deswegen nur drei Stunden täglich geöffnet. „Nach zehn Wochen stand ich wieder im Geschäft“, sagt sie stolz. Erst der Lockdown im Frühjahr zwingt sie wieder, einen Gang runter zu schalten. Die ganze Geschichte hat ihr vor Augen geführt, dass sie viele wichtige und gute Menschen in ihrem Leben hat. Wie Michael Schramm. Freund, Familie, Kunden – große Stützen für Ines Ganse: Immer wieder sagt sie, wie dankbar sie ihrem Nachbarn sei. „Der hatte ein so schlechtes Gewissen, weil er nicht erst den Notdienst gerufen hat, sondern meinen Partner. Micha sagte, das war das letzte Mal, dass er in einer solchen Situationen auf mich hört. Ihm habe ich mein Leben zu verdanken.“ Oder ihre Familie – ihr Partner, ihr Sohn, dessen Frau und die siebenjährige Enkelin. „Jeden Tag war jemand da. Das war eine große Stütze.“ Und auch ihre Kunden. Drei ihrer Stammkunden haben sie auf der Intensivstation besucht. Und als sie wieder im Laden war, kamen viele Blumensträuße und viel Zuspruch. „Das zeigte mir, dass ich nicht nur ein Geschäft bin für die Menschen, sondern viel mehr. Es haben sich über die Jahre enge Freundschaften gebildet.“ Von Annika Jensen