So entstanden Potsdams Plattenbausiedlungen Waldstadt und Schlaatz

Fünf Meter maß das Alphorn aus Abwasserrohren, auf dem Hans Hüfler vom Ensemble „Blechzeit“ im Mai 2017 zur Grundsteinlegung für den zweiten Teil des „Quartiers Waldgarten“ musizierte. Es war der Startschuss für den Bau 113 neuer Wohnungen in fünf Häusern – an einem denkwürdigen Ort. Denn hier zwischen Saarmunder Straße, Zum Kahleberg und Zum Jagenstein hatte man 40 Jahre zuvor mit der neuen Zentrale des Wohnungsbaukombinats Potsdam die Herzkammer der Waldstadt II eingerichtet. Der von 1977 bis 1986 errichtete Stadtteil mit seinen zum Schluss mehr als 5100 Wohnungen war DDR-weit das erste industriell gefertigte Plattenbauviertel, das quasi in den Wald gesetzt wurde. Das Plattenwerk, von dem die in Zimmergröße komplett vorgefertigten, tonnenschweren Wand- und Deckenelemente auf Tiefladern zur Baustelle gebracht wurden, befand sich gleich auf der anderen Seite der Heinrich-Mann-Allee. Montiert wurde rund um die Uhr im Drei-Schicht-Betrieb mit sogenannten Taktstraßen wie am Fließband. Aufgabe sei es gewesen, den Baumbestand „so weit wie möglich zu erhalten“, sagt Gerhard Brock, von 1980 bis 1991 Direktor des Wohnungsbaukombinats mit seinen 5000 Beschäftigten: „Ich kann mich erinnern, dass die übliche Montagebauweise sehr beeinträchtigt wurde. Sonst hatten wir lange Kranbahnen. Jetzt musste man während der Montage den Kran umsetzen, damit Bäume bleiben konnten.“ Im Mai 1979 zogen die ersten Mieter in die Waldtstadt II, genauer in Wohnungen am damaligen Anton-Fischer-Ring, der nach der Wende 1992 in Kiefernring umbenannt wurde. Sie hätten die Nachbarhäuser aufwachsen sehen, berichtet Renate Goldammer, eine der ersten Waldstadt-Bewohnerinnen: „Ringsum waren Sand und Wüste.“ Zwei Jahre habe es gedauert, bis auch die Straße kam. Die Waldstadt II mit ihren zur Wende mehr als 13.500 Bewohnern markierte einen Zielpunkt der vor mehr als 250 Jahren mit der Templiner und der Teltower Vorstadt begonnenen Ausdehnung Potsdams in den Süden. Denn am Bahnübergang endet das Stadtgebiet. Bergholz-Rehbrücke auf der anderen Seite der Gleise war 1939 zwar eingemeindet, 1952 jedoch wieder in die Selbstständigkeit entlassen worden. Die geographisch von der Havel in einem Korridor zwischen Nuthe und Ravensbergen bis zur Wetzlarer Bahn vorstoßende Teltower Vorstadt ist die älteste unter den Potsdamer Vorstädten. 1716 wurde an der Leipziger Straße die königliche Brauerei in Betrieb genommen, die dem Brauhausberg ihren Namen gab. Mitte des 18. Jahrhunderts ließ der König am nördlichen Hang auf Höhe der heutigen Max-Planck-Straße Kolonistenhäuser für sächsische Maurer und Zimmerleute errichten. Das war die erste Siedlung. Gewachsen sind die Teltower und die Templiner Vorstadt in einer Abfolge ehrgeiziger, oftmals in genossenschaftlicher Selbsthilfe geschulterter Siedlungsbauprojekte. Mit der Kolonie Daheim, die 1894 bis 1897 für die Arbeiter der nahen Königlichen Eisenbahnwerkstätten (später Reichsbahn-Ausbesserungswerk) errichtet wurde, schlug die Geburtsstunde der ältesten Potsdamer Wohnungsbaugenossenschaft. Die Uferzeilen im Umfeld der zur vorletzten Jahrhundertwende errichteten Hoffbauer-Stiftung auf Hermannswerder zählen zu den begehrtesten Potsdamer Wohnlagen. Schon 1925 beschlossen die Stadtverordneten die Errichtung einer neuen Wohnstadt namens „Wald-Potsdam“ für 29.000 Einwohner beidseits der Michendorfer Chaussee. Doch das Projekt verendete mit der Weltwirtschaftskrise. Zur selben Zeit entstand südlich der heutigen Heinrich-Mann-Allee im Auftrag des Beamten-Wohnvereins die „Siedlung am Brunnen“, die heute wegen ihrer Architektur geschätzt und wegen des Kopfsteinpflasters der Drevesstraße berüchtigt ist. Erweitert wurde die Siedlung in den 1950er Jahren entlang der Kunersdorfer Straße unter dem Architekten Karl-Heinz Birkholz, dem späteren Generalplaner der Waldstadt II, im Auftrag der damaligen Arbeiterwohngenossenschaft „Karl Marx“, deren Rechtsnachfolgerin in den 2010er Jahren mit dem „Quartier Waldgarten“ den ersten nennenswerten Wohnungsneubau in der Waldstadt II seit der Wende initiieren sollte. Eine Steinbank erinnert an der Ecke Waldstraße/Heinrich-Mann-Allee an Adolf Damaschke, den Begründer der deutschen Bodenreform-Bewegung, auf dessen Initiative 1922 die benachbarte Siedlung Eigenheim entstand. Deren Grundstücke dürfen von den Eigentümern vererbt, nicht aber weiterverkauft werden. Als größtes zusammen stehendes Ensemble einer süddeutschen Berg- und Bauernarchitektur außerhalb Württembergs gilt die zwischen 1932 und 1936 von Reinhold Mohr an der Nuthe errichtete Eigenheimsiedlung Am Stadtrand, deren Häuser von arbeitslosen Handwerkern gebaut und erst anschließend unter ihnen verlost wurden, damit sich jeder bei jedem Haus dieselbe Mühe gab. Lagunenstadt nach venezianischem Vorbild: Auf der Denkmalliste stehen auch die Häuser des Mitte der 1930er Jahre als „NS-Kriegsbeschädigtensiedlung“ errichteten Saarlandangers an der heutigen Eduard-von-Claudius-Straße in der Gabelung von Drewitzer Straße und Heinrich-Mann-Allee. Die benachbarte, heute von Aral betriebene Tankstelle ist 1992 am Ort eines früheren, als „Männerfalle“ bekannten Stehlokals eröffnet worden. Die DDR errichtete zeitgleich mit dem Wohngebiet „Zentrum Süd“ zwischen 1960 und 1964 zwischen Drewitzer Straße und Heinrich-Mann-Allee eine erste Satellitenstadt. Die noch in Blockbauweise entstandene Waldstadt I bot mit rund 2500 Wohnungen auf einer Fläche von knapp 45 Hektar Platz für mehr als 4200 Einwohner. Die Waldstadt II wurde in jeder Hinsicht etwa doppelt so groß. Der zwischen 1980 und 1987 errichtete Schlaatz als drittes DDR-Neubauviertel in der Teltower Vorstadt hatte nach der Fertigstellung auf 76 Hektar knapp 5500 Wohnungen mit fast 9000 Bewohnern. Zu den schon damals diskutierten Vorschlägen für eine Wohnumfeldverbesserung zählt die Verwandlung in eine Lagunenstadt nach venezianischem Vorbild durch eine mäandernde Umleitung der Nuthe. Amtliche Stigmatisierung: Tatsächlich hat dieser Stadtteil mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Mit Verärgerung hat die Wohnungswirtschaft auf die Nachricht reagiert, dass die Stadt in einem amtlichen Vordruck für Wohnungssuchende die (mittlerweile getilgte) Formulierung „Alles außer Schlaatz“ anbot. Das sei eine „Stigmatisierung, die niemandem gut tut, die auch dem Entwicklungsprozess des Schlaatzes nicht gerecht wird“, sagt Bodo Jablonowski, Geschäftsführender Vorstand der Wohnungsgenossenschaft „Karl Marx“, die am Schlaatz allein weit mehr als 1000 Wohnungen hat. In der jüngsten Zufriedenheitsumfrage der Stadt stand der Schlaatz im Vergleich aller Stadtteile bei der Frage nach der Armutsgefährdung ganz oben, bei der Frage nach der Lebensqualität hingegen an letzter Stelle. Die Waldstadt II steht in Sachen Armutsgefährdung ihrer Einwohner an dritter Stelle, die Templiner und die Teltower Vorstadt hingegen rangieren ebenso wie Waldstadt I im Mittelfeld. Bei der Frage nach der Lebensqualität stehen auch die Waldstädte im letzten Drittel, während die beiden Vorstädte mit „gut“ genau in der Mitte sind. Statistische Ausreißer im stadtweiten Wohngebietsvergleich liefern vor allem die Waldstadt I und der Schlaatz. Hier Zahlen von 2018: Mit 16,2 Jahren hat die Waldstadt I die nach Nedlitz zweitlängste Wohndauer. Mit 50,9 Jahren sind die Bewohner dort im Durchschnitt so alt wie in keinem anderen Stadtviertel. Der Seniorenanteil ist mit 19,4 Prozent der dritthöchste in der Stadt. 15 Prozent der Bewohner sind hochbetagt, also über 80 Jahre alt, auch das ist der stadtweit höchste Wert. Dafür ist der Bevölkerungsanteil von Jugendlichen mit 2,4 Prozent am geringsten. Der Schlaatz liegt mit einem Ausländeranteil von 23,5 Prozent ganz vorn. Auch der Arbeitslosenanteil von 12,9 Prozent ist ein stadtweiter Spitzenwert. Auf Platz drei steht hier Waldstadt II, auf Platz vier die Teltower Vorstadt. Hartz IV beziehen am Schlaatz 6,1 Prozent der Bewohner, auch das ist stadtweit der höchste Wert. Hier folgt ebenfalls auf Platz drei die Waldstadt II. Ganz unten stand der Schlaatz 2018 mit einer Wahlbeteiligung von 31,5 Prozent zur Kommunalwahl. Die Waldstadt II rangierte mit 36,5 Prozent an drittletzter Stelle. Der Fokus der Stadtentwicklungspolitik in Potsdam liegt spätestens seit Mitte der 1990er Jahre auf der Innenstadt und dem Norden. Man habe sich „vielleicht auch darauf verlassen, dass Viertel im Süden wie Waldstadt II, Am Stern und Schlaatz in eigener Verantwortung der Unternehmen eine Aufwertung der Bestände erfahren“, sagt „Karl-Marx“-Vorstand Jablonowski. Zu den sozialen Landmarken, die nach 1990 verschwanden, zählen das 1995 abgerissene Restaurant „Zum Kahleberg“ in Waldstadt II, das 2013 abgerissene „Blauhaus“ – bis zur Wende Jugendfreizeitzentrum „Drushba“ – in der Heinrich-Mann-Allee und das 2018 geschlossene Wohngebietsrestaurant „Zum Keiler“ in Waldstadt I, das für ein Wohnhaus abgerissen werden soll, wie gerade bekannt wurde. Doch die Viertel wachsen auch, sie sind in Bewegung. Mächtigen Wegmarken in anderen Stadtteilen wie dem Kirchsteigfeld, dem Bornstedter Feld, den Sanierungsgebieten in Potsdam und Babelsberg und vielleicht bald auch Krampnitz steht eine kleinere zweite Welle gegenüber, die vielleicht mit jener Grundsteinlegung im Mai 2017 auf dem Grundstück des einstigen Wohnungsbaukombinats offenbar wurde. „Schönste Plattenbausiedlung Deutschlands“: Am selben Tag feierte auch die Pro Potsdam einige Straßen weiter Am Moosfenn die Grundsteinlegung für ihr erstes Neubauprojekt in der Waldstadt II nach dem Mauerfall mit 105 Wohnungen. Gebaut wurde wenig später auch auf der anderen Seite der Heinrich-Mann-Allee. Bei vielen Anwohnern heißt das neue Brunnenviertel auf dem Gelände des früheren Plattenwerks einfach Waldstadt III, obwohl es gar nicht in den Wald hineingebaut wurde. Der damalige Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD), der im Mai 2017 auf beiden Baustellenfeiern zugegen war, bezeichnete die Waldstadt II mit ihrem vielen Grün einmal mehr als „einen der schönsten Stadtteile, die wir in Potsdam haben“. 1999 zur Feier ihres 20-jährigen Bestehens hatte er die Waldstadt II noch als „schönste Plattenbausiedlung Deutschlands“ bezeichnet. Dabei hatte dieses Viertel wie viele andere in Potsdam auch seine Durststrecke gerade hinter sich. Um die Jahrtausendwende gab es in Potsdams Plattenbaugebieten einen Lehrstand von teilweise mehr als zehn Prozent. Am Schlaatz sank die Einwohnerzahl von 12.670 im Jahr 1994 auf 8998 im Jahr 2005. In der Waldstadt II lebten 1994 12.999 Einwohner, 2005 waren es nur noch 9.430. Seither aber geht es aufwärts. In der Teltower Vorstadt lebten 1994 4288 Menschen, 2005 waren es auch dort nur noch 3781, 2018 hingegen schon 4398. Bekannte Sanierungs- und Neubauprojekte sind die zur Eigentumswohnanlage umgebaute ehemalige Brauerei am Leipziger Dreieck und die Eigenheimsiedlung Nuthewinkel zwischen Horstweg und Kolonie Daheim. Und mit dem geplanten Wohnviertel auf dem einstigen Tramdepot an der Heinrich-Mann-Allee kündigt sich bereits weiterer Einwohnerzuwachs an. Die von der DDR hinterlassenen Neubaugebiete in Potsdam firmieren mittlerweile seit Jahrzehnten als „Stadterneuerungsgebiete“ – mit den entsprechenden Förderprogrammen. Der Leerstand tendiert gegen Null, selbst am Schlaatz, in dem mehrere Plattenbauten zusätzliche Wohn-Geschosse bekamen. Die Potsdamer Wohnungsgenossenschaft 1956 wurde für dieses Projekt mit dem Preis „Gewohnt gut“ der Brandenburgischen Wohnungswirtschaft ausgezeichnet – und so bekam auch der Schlaatz positive Schlagzeilen. Alle Kapitel unserer großen Potsdam-Serie lesen Sie unter: potsdam.maz-online.de Das Datenjournalismus-Projekt „Potsdam ganz nah“ ist gefördert durch das Kartographen Mercator Stipendien-Programm für JournalistInnen – eine Initiative des gemeinnützigen Vereins Fleiß und Mut e.V. Lesen Sie auch: Wohnungspolitik in Potsdam: Rathaus stigmatisiert den Schlaatz 40 Jahre Waldstadt II : So hat sich das Plattenbauviertel entwickelt Krampnitz: Das passiert im neuen Potsdamer Entwicklungsgebiet Von Volker Oelschläger