Waldstadt I könnte Potsdams neues Szeneviertel werden

Irgendwann im Winter 2019 ist der Moment gekommen: Josephine Weinhold und Kevin Schmidt befällt die Potsdam-Krise. Ein Jahr ist vergangen, seit sie zum Studieren aus Mecklenburg-Vorpommern in den Plattenbau nach Drewitz gezogen sind – und aus der Freude auf die erste gemeinsame Wohnung eine Aversion gegen die ganze Stadt geworden ist. Der Nachbar, der sie seit Monaten durch den Türspion beobachtet und terrorisiert, das viele Grau in ihrem Straßenzug, die schiefen Blicke auf Josephines Dreadlocks, der Lärm der nahen Autobahn, das mulmige Gefühl, in der Nacht durch die Straßen zu laufen – irgendwann will das Paar nur noch eins: weg. Alle Kapitel unserer großen Potsdam-Serie lesen Sie unter: potsdam.maz-online.de Ihr Traum: Eine Wohnung auf der anderen, der „guten Seite der Havel“, wie sie sagen. Doch alle Versuche, ein bezahlbares Zuhause zu finden, scheitern, monatelang hagelt es nur Absagen, der Frust wächst, die Stadt wird zum Feind. „In Potsdam gibt es einfach keinen Platz für uns. So fühlte sich das an“, sagt Josephine Weinhold. „Wir waren echt am Ende.“ Die Waldstadt wird ihre Rettung: Dabei liegt die Rettung ganz nah. Der Tipp kommt von einer Freundin: „Sucht doch mal in der Waldstadt, da ist es super!“ Sie selbst war wenige Monate zuvor in die Waldstadt II gezogen, schwärmte von dem vielen Grün, den günstigen Wohnungen, den netten Menschen und der guten Verkehrsanbindung. Zwei Wohnungen schauen sich Josephine und Kevin an, die dritte wird zur Liebe auf den ersten Blick. Waldstadt I, Hochparterre, drei Zimmer, Küche, Bad, Balkon, 570 Euro warm für 67 Quadratmeter - im Februar 2020 ziehen sie ein, im September sagen sie: „Diese Wohnung ist das Beste, was uns in der Stadt bisher passiert ist.“ Zwischen Wiese, Wald und den viergeschossigen Wohnblöcken ist aus ihrem Potsdam-Hass eine Waldstadt-Liebe geworden. Und mit der versuchen die 21 Jahre alte Musik-Studentin und der 26 Jahre alte Heilerziehungspfleger Freunde, Bekannte und Kommilitonen anzustecken. „Die meisten wissen einfach gar nicht, wie schön es hier ist.“ Dabei sind sie überzeugt: Waldstadt I wird noch mehr junge Menschen anziehen, könnte zu Potsdams neuem Szeneviertel werden. „Hier ist es bezahlbar, hier gibt es noch Räume, die man sich erobern kann.“ Die beiden grinsen. „In der Waldstadt“, sagt Josephine, „ist noch Platz für ein junges, wilderes Potsdam.“ Mehr als ein Drittel aller Einwohner ist älter als 65: Noch ist von einem jungen, wilden Potsdam in der Waldstadt I allerdings wenig zu spüren. Als erstes Neubaugebiet Potsdams entstand die Siedlung ab den 1950er Jahren in der damals typischen Großblockbauweise in einem Waldabschnitt nahe der Stadtgrenze, heute sind mehr als ein Drittel aller Einwohner über 65. Viele von ihnen leben seit Jahrzehnten dort, sind mit dem Stadtteil alt geworden. „Waldstadt“, sagen sie, „das ist meine Heimat.“ Oder mehr noch: „Das ist mein Leben.“ Hans Grodotzki war 1964 Erstmieter in der Wohnung an der Johannes-R-Becher-Straße, drei Zimmer, Küche, Bad, Balkon, 79 Mark Miete - seine erste und bis heute einzige Wohnung. Hier, im ersten Stock zwischen Heinrich-Mann-Allee und Drewitzer Straße, ist seine Tochter aufgewachsen, hier ist seine Ehe erst gewachsen und dann zerbrochen, hier lebt er seit 1986 allein, aber nie einsam, wie er sagt - hier will der 84-Jährige bleiben, solange das Leben ihn lässt. Als er einzog, war er kaum älter als Josephine und Kevin. „Die Waldstadt war damals jung, überall lebten Familien mit Kindern, unsere Tochter musste zur Schule nur einmal über die Straße gehen.“ Nachbarn pflanzten Bäumchen vor dem Haus, darunter zwei Esskastanien, die heute so üppig tragen, dass ganze Schulklassen zum Kastaniensammeln vorbeikommen. „36 Familien waren wir damals in den Blöcken 70 bis 73“, sagt Grodotzki, „fünf sind heute noch übrig.“ Der 84-Jährige beobachtet den Wandel schon länger. Und auch er glaubt: Die Waldstadt I wird wieder jung. Bei seinen Spaziergängen durch das Viertel sieht er häufig Umzugswagen vor den Häusern stehen. „Meistens ziehen dann Alte aus oder Junge ein.“ Dass die Waldstadt I Potsdams Stadtteil mit der ältesten Bevölkerung sein soll? Grodotzki schüttelt entschieden den Kopf. Da müssten sich die Statistiker vertan haben, meint er. „Schauen Sie sich doch nur mal all die jungen Leute an, die hier ein- und ausgehen.“ Doch nicht nur die Mieter, auch die Eigentümer wechseln. Dreimal hat sein Block an der Johannes-R-Becher-Straße seit der Wende den Besitzer gewechselt, der letzte, die Deutsche Wohnen, ließ erst kürzlich den Buddelkasten vor dem Haus zuschütten. „Ein Fehler“, glaubt Grodotzki, „denn die Kinder, die da gerne spielen würden, kommen schon noch.“ Mehr Bewohner verloren als gewonnen: Tatsächlich zeigt ein Blick in die Daten der Stadt Potsdam zumindest eins: Nachdem die Waldstadt I seit 1994 fast jedes Jahr mehr Einwohner verloren als gewonnen hat, kennt die Entwicklung der Einwohnerzahlen seit 2017 auch hier nur noch eine Richtung: Es ziehen mehr Menschen zu, als weg. Den alten Stand von 5828 Einwohnern im Jahr 1994 hat der Stadtteil mit 5744 Einwohnern (2018) zwar noch nicht wieder erreicht. Doch wenn Hans Grodotzki, Josephine Weinhold und Kevin Schmidt Recht behalten, wird die Marke bald erreicht, vielleicht sogar überschritten werden. Grodotzki gefällt die Entwicklung, er mag junge Menschen, „oft verstehe ich mich mit denen besser als mit den Alten“, sagt er. Auch in seinem Aufgang wohnen inzwischen ein paar junge Leute, mit einem – „der arbeitet auf einem Schiff“ – guckt er häufiger Sport auf Sky. Für eine andere nimmt er regelmäßig Pakete an. „Und das mache ich nicht für jeden, müssen Sie wissen!“ Als ehemaliger Leistungssportler ist Hans Grodotzki bekannt in der Stadt, gleich zweimal gewann der Leichtathlet 1960 in Rom Olympisches Silber - Erfolg, der ihm das Ticket aus der Waldstadt in edlere Wohnlagen hätte sichern können. „Als ich zurückkam von den Olympischen Spielen“, sagt er, „da wäre so einiges möglich gewesen. Auch ein Haus hatte man mir angeboten.“ Doch Grodotzki wollte nicht, „das war nicht mein Ziel“, sagt er. Heute sei er froh, das Haus nicht genommen zu haben. „Wer weiß, wie es gekommen wäre…“ Grodotzki runzelt die Stirn. „Vielleicht hätte ich es eines Tages zurückgeben müssen.“ Zum Mittagessen ins Ernährungsinstitut: Ansonsten denkt der 84-Jährige nur selten darüber nach, was gewesen wäre wenn. „Ich bin zufrieden“, sagt er. Als Sportler hat er die halbe Welt gesehen, „da hab ich nichts aufzuholen“. Und auch das Hier und Jetzt sei gut wie es ist. Einmal im Jahr besucht er den Weihnachtsmarkt in seiner Heimat Erfurt, trifft sich regelmäßig mit alten Sportler-Freunden. Den Alltag bewältigt er noch immer allein. „Ich hab hier ja alles“, sagt er, „Supermarkt, Ärzte, Apotheke, Frisör, alles zu Fuß erreichbar.“ Mittag isst er von Montag bis Freitag in der Kantine des Ernährungsinstituts in Bergholz-Rehbrücke und am Wochenende gönnt er sich was. „Einen Besuch in einem richtig guten Restaurant in der Stadt.“ Gerne würde Hans Grodotzki auch mal in der Waldstadt essen gehen, abends ein Bier trinken gehen, „in einem schönen deutschen Restaurant“. Der „Keiler“ hat im November 2018 ein letztes Mal Gäste bewirtet, nun soll die alte Gaststätte abgerissen und durch ein Wohnhaus ersetzt werden. „Schade“, findet Grodotzki, „denn wenn der Waldstadt wirklich was fehlt, dann ist es das.“ Das finden übrigens auch Josephine und Kevin, nur, dass sie sich nicht unbedingt ein „schönes deutsches Restaurant“ wünschen, sondern vielleicht ein nettes Café, eine coole Bar oder gar einen Club in einem der leerstehenden Gebäude im Industriegebiet. Wenn sie noch ein paar mehr junge Leute finden würden, hätten sie Lust, selbst etwas auf die Beine zu stellen, die Waldstadt noch ein bisschen bunter zu machen. Acht Monate nach ihrem Umzug spielen sie sogar mit dem Gedanken, länger zu bleiben, vielleicht sogar für immer. Und ihr Traum von einer Wohnung auf der anderen Seite der Havel? „Hat sich ausgeträumt“, sagt Josephine. Die „gute Seite der Havel“, die liegt für sie inzwischen im Süden der Stadt. Das Datenjournalismus-Projekt „Potsdam ganz nah“ ist gefördert durch das Kartographen Mercator Stipendien-Programm für JournalistInnen – eine Initiative des gemeinnützigen Vereins Fleiß und Mut e.V. Von Anna Sprockhoff