Wohnen in Bornim: Der Potsdamer Stadtteil mit den meisten Kindern

Jeden Morgen um kurz nach halb acht setzt Evy den Schulranzen auf, lässt die Haustür hinter sich ins Schloss fallen, greift ihr Fahrrad und strampelt allein zur Schule. Gerade mal eine Woche hat sie sich nach der Einschulung im Sommer 2018 von ihrer Mutter bringen lassen, dann offenbarte die Sechsjährige ihren Eltern: „Mama, Papa, ab sofort gehe ich alleine.“ Kurz zuckten Erik und Ingke Saal damals zusammen, kurz flackerte die Sorge auf – „können wir das wirklich machen?“. Dann grinsten sie sich an und nickten. Im Hügelweg, in Potsdam-Bornim, „da kann man das noch guten Gewissens machen“. Bornim, ihr Einfamilienhaus, das Viertel – im Leben von Erik und Ingke Saal ist es eigentlich ein Kompromiss. „Aber der wohl Beste, den wir jemals hätten finden können“, sagen sie. Er, 35, gebürtiger Potsdamer, liebt das Dorf und Natur pur, würde am liebsten irgendwo in die mecklenburgische Einsamkeit ziehen. Sie, 32, gebürtige Rheinländerin, braucht die Stadt, den Trubel und kann sich eines niemals vorstellen: ein Haus in der Pampa. Weite Wiesen und kurze Wege: In Bornim hat die Familie beides gefunden: Stadt und Land, Natur und Trubel, weite Wiesen und kurze Wege. „Für uns die perfekte Mischung“, sagt Erik Saal. Uns, das sind neben Erik und Ingke Saal, Tochter Evy (8), Sohn Justus (2), Katze Mary und Eriks Bruder. Mit ihm leben sie seit dem Kauf des Hauses 2008 unter einem Dach, WG-Leben 2.0 quasi. Noch reicht dafür das Einfamilienhaus mit seinen 120 Quadratmetern, doch mittelfristig suchen Saals etwas Neues. In Bornim – und zwar nur in Bornim. „Für uns als Familie gibt es nichts besseres“, sagt Erik Saal. Ab 1993 ist das Gebiet um den Hügelweg nach und nach gewachsen, aus Obst- und Gemüsegärten wurde eine neues Stadtviertel. Bei Familien ist Bornim inzwischen so beliebt, dass der Stadtteil 2018 beim Anteil der Kinder und Jugendlichen in Potsdam den Rekordwert erzielte. 22,3 Prozent der 3429 Bewohner waren in dem Jahr unter 18 – so viele, wie in keinem anderen Potsdamer Stadtteil. „Mich wundert’s nicht“, sagt Erik Saal, „allein bei uns im Viertel leben extrem viele Familien.“ Doch nicht nur sie prägen Alltag und Gesicht des Stadtteils. Bornim, das sind auch Hühner, Pferde und Schafe, Kürbisse, Wiesenblumen und Tomaten, Bio und Bauern – kurz: Bornim ist Land und Landeshauptstadt zugleich. Hinterm Haus stand früher der Kuhstall: Was das für den Stadtteil bedeutet, weiß kaum jemand so gut wie Klaus Rietz, 67, Rentner, langjähriger Stadtverordneter – und Ur-Bornimer. Bis 1961 hat sein Vater als selbstständiger Bauer in Bornim noch die Felder beackert, danach als LPG-Vorsitzender Betrieb und Kuhstall hinterm Haus geführt. Rietz selbst verdiente als Agraringenieur sein Geld erst in volkseigenen Gütern, später im Ministerium – den Bauern in sich gab er nie auf. Auch heute noch grasen seine Schafe und Pferde auf der anderen Seite der Straße, in seiner Scheune steht nach wie vor ein Trecker, unterm Dach lagert er jeden Spätsommer Heu und Stroh ein. Und dann ist da noch die alte Hofstelle, neu bebaut nach der Wende mit zwei zartgelben Einfamilienhäusern, aber wie eh und je das Zuhause von drei, bis kurzem sogar noch vier Generationen. Tradition, Zusammenhalt, Gemeinschaft – für Klaus Rietz gehört auch das zu Bornim. Gemeinsam mit anderen hat er 1990 an der Potsdamer Straße die erste Fußgängerampel in der Stadt nach der Wende durchgesetzt, hat den Bürgerverein gegründet, sich stets mit Gleichgesinnten wie dem Bornimer Restaurator Klaus Broschke für die Belange und den Zusammenhalt des Stadtteils eingesetzt. Doch das, sagt er, sei nach der Wende immer schwieriger geworden. Was fehlt, seien die Gasthöfe von einst, die Cafés, die Bäckereien und kleineren Geschäfte – kurz: die Orte, die früher die Gelegenheit für Begegnungen geschaffen haben. So seien nicht nur die Treffen seltener, auch der Kontakt zu Neubürgern sei schwieriger geworden. „Manche wohnen schon seit Jahren hier, trotzdem kennt man sich nicht“, sagt Rietz. Grüßen, sich vorstellen, mal nen Plausch halten, das sei eben nicht jedem wichtig. „Muss man akzeptieren“, sagt er, „schade finde ich’s trotzdem.“ Fast 1500 neue Einwohner seit 1994: Was ihnen geblieben ist im Stadtteil seien die Kirche, das Bürgerhaus, der Sportplatz, seit einigen Jahren wieder eine Grundschule, die Kitas – und das Dörfliche. Fast 1500 neue Einwohner hat Bornim seit 1994 dazu gewonnen, ländlich ist es mit seinen inzwischen fast 3500 Einwohnern trotzdem geblieben. An der Mitschurinstraße stehen jeden Sommer Gemüse, Eier und Blumen zum Mitnehmen auf Tischen am Straßenrand, das Geld legt man in eine Kasse des Vertrauens. Beim Spazieren wählt man zwischen Wald und Wiesen, Katharinenholz und Lennéscher Feldflur. Allein die Autokolonnen, die sich jeden Tag über die Potsdamer Straße schieben, die Lkw, die jene, die direkt an den Hauptstraßen wohnen, nachts ab 4 Uhr aus dem Schlaf reißen – die wollen so gar nicht zum Land-Idyll passen. Klaus Broschke leidet besonders unter dem Verkehr, Haus und Werkstatt liegen direkt an der Potsdamer Straße/B273, „der verlängerten Autobahn“, sagt er. Nach der Wende sei es mit jedem Jahr ein wenig schlimmer geworden, vor allem der Lkw-Verkehr macht ihm zu schaffen. „Fünf, sechs Mal die Stunde rasen die Baufahrzeuge nachts und frühmorgens bei uns vorbei...“ Er schüttelt den Kopf. „Das ist wirklich unerträglich.“ Bornim wird erstmals im Jahr 1264 erwähnt. Im Jahr 1663 wurde Bornim Domäne des Großen Kurfürsten, dieser legte dort 1664 einen Garten und 1672–1677 ein Lustschloss an. Ein Wassergraben umschloss das Gelände, wovon Teile heute noch durch mit Schilf bewachsene Streifen erkennbar sind. Wegen mangelnder Pflege und Nutzung musste das Schloss 1760 abgerissen werden. Das Schloss stand auf dem Gelände zwischen Heckenstraße und Mitschurinstraße, diese hieß früher Koloniestraße, benannt nach der 1781 erfolgten Ansiedlung von 16 Kolonistenfamilien in acht Doppelhäusern. Für diese Familien wurde auch ein Teil des ehemals kurfürstlichen Lustgartens parzelliert und als Gartenland vergeben. Die Bornimer Feldflur geht auf Friedrich Wilhelm IV. zurück, der 1842 den Landschaftsgärtner Peter Joseph Lenné mit der Anlage und Neugestaltung beauftragte. Alleen entstanden, die Ackerflächen wurden mit Laubgehölzen und Hecken gerahmt. Diese Landschaft ist durch die landwirtschaftlich Nutzung weitgehend zerstört wurden, und nach der Wende im Zuge der Flurneuordnung wiedergestellt worden. Zur Bundesgartenschau 2001 wurde diese Landschaft als Naherholungsgebiet wieder belebt, es wurden Wanderwege angelegt und Maulbeerbäume gepflanzt - wenn bei weitem auch nicht so viele wie früher. Familie Saal bekommt von all dem nur wenig mit. Ihr Haus im Hügelweg liegt weit genug entfernt, selbst zur Grundschule muss Tochter Evy nicht einen Meter an der großen Straße entlang gehen. Dennoch: Auch sie machen sich in letzter Zeit Gedanken, wie es weitergeht mit Bornim, wie viel Wachstum, wie viele neue Häuser der Stadtteil noch verträgt und ob sie hier jemals ein bezahlbares neues Heim finden werden. Als Erik Saals Eltern 2008 die beiden Häuser nebeneinander kauften, haben sie keine 300.000 Euro bezahlt. „Kaum zu glauben“, sagt er, „aber die Häuser wollte damals keiner haben.“ Wenn heute mal eine Immobilie auf dem Markt sei, die für die vierköpfige Familie in Frage kommt, lägen die Preise bei einer halben Million Euro und mehr. „Viel, viel zu viel“, findet Saal. Der gelernte Fluggerätemechaniker hat sich mit seiner Firma „eCAD“ erst vor ein paar Jahren selbstständig gemacht, „das große Geld fällt da noch nicht ab“. Seine Frau, gelernte Konditorin, arbeitet Teilzeit, auch ihr Gehalt lässt keine allzu großen Sprünge zu. „Zum Glück haben wir dieses Haus – und kommen mit unserer kleinen Familien-WG gut klar“, sagt Saal. So könnten sie ohne Druck nach etwas Neuem und Bezahlbarem suchen. Weg aus Bornim, das kommt für die Familie nicht in Frage. Denn einen besseren Kompromiss aus Stadt und Land, davon sind Erik und Ingke Saal überzeugt, „den finden wir in Potsdam nicht“. Alle Geschichten unserer großen Potsdamer Stadtteil-Serie lesen Sie unter: potsdam.maz-online.de Das Datenjournalismus-Projekt „Potsdam ganz nah“ ist gefördert durch das Kartographen Mercator Stipendien-Programm für JournalistInnen – eine Initiative des gemeinnützigen Vereins Fleiß und Mut e.V. Von Anna Sprockhoff