Wenn Polen in Deutschland arbeiten, ihre Kinder aber zuhause lassen: Wo und von wem werden dann Sozialleistungen fällig? Müssen Staaten in Europa erst ihre Wirtschaft ankurbeln, um sich Sozialleistungen leisten zu können? Oder müssen erst soziale Standards definiert werden, die dann von der Wirtschaft zu erfüllen sind? Können Kindergeld, Rente, Pflege- oder Arbeitslosengeld in Europa überhaupt auf einen Nenner gebracht werden? Und wenn ja, wie? Um Fragen wie diese ging es in diese Woche auf Schloss Genshagen.
Etwa 50 Menschen waren am Dienstag Gäste des ersten offenen Bürgerdialogs „Soziales Europa“. Am Mittwoch folgte eine Fachtagung. Eingeladen hatte die Stiftung Genshagen, Mitinitiator und Gast war Rolf Schmachtenberg, seines Zeichens Staatssekretär im Bundesarbeits- und Sozialministerium. Er wolle hören, was Politik besser machen könne, sagte er.
Nach zwei Workshops stellten die Teilnehmer Pro und Contra einheitlicher Sozialstandards in Europa vor. Die Gruppen konnten sich allerdings auf keine Seite schlagen. Schmachtenberg dagegen bezog Position. Er erklärte, angesichts eines global offenen Arbeits- und Finanzmarktes mit hin- und herwandernden Industrieprodukten könnten Nationalstaaten Sozialfragen nicht mehr allein lösen. „Dennoch muss jemand, der woanders als in seinem Land krank wird, wissen, dass er verarztet wird.“
Schmachtenberg: „Gemeinsames System ist möglich“
Seine These: „Auch wenn Wirtschafts- und Sozialsysteme in Europa äußerst unterschiedlich sind – ein gemeinsames System ist möglich.“ Das könne sogar sehr gut werden, auch wenn man im Moment erst mal „auf Sicht zusammenfinden“ müsse. Eine einheitliche Sozialversicherung EU-weit sei für ihn denkbar: mit den nationalen Nummern und einem EU-Code davor.
Schmachtenberg sagte: „Mein Ziel ist eine Union starker europäischer Sozialstaaten. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Idee der europäischen sozialen Marktwirtschaft mit dem ökologischen Ausgleich gut aufstellt für die Zukunft.“ Dafür erntete er Beifall.
Elegante Lösungen für Bürokratie-Monster
Seinen Optimismus schöpft Schmachtenberg aus Zahlen und Fakten, etwa: „Der Filmpark Babelsberg finanziert eine Dependance in Hollywood über Sozialversicherungen in Potsdam, weil die private Absicherung in Amerika sehr teuer ist.“ Außerdem wurde über Bürokratie-Monster diskutiert wie das Papier A1. Diesen Nachweis zur Sozialversicherung muss jeder EU-Bürger bei Auslandstätigkeit ausfüllen, es soll Schwarzarbeit und Missbrauch unmöglich machen. Auf Dauer gibt es dafür elegantere Lösungen, da waren sich die Teilnehmer einig.
Wie andere nutzte der Zossener Ulrich-Thomas Andrees später die Chance zu ganz direktem Gespräch mit dem Fachmann Schmachtenberg. Beim Büffet stieß er noch einen Trinkspruch aus: „Auf Europa!“ Darauf stießen alle am Tisch mit ihm an. Wenig später verließ eine Frau das Schloss mit den Worten: „Das war heute Abend ein großer Schritt europäische Bildung.“
Riesenaufgabe christlich geprägter Kulturen
Zu den Ergebnissen, die er von dem Bürgerdialog mitnimmt, sagte Schmachtenberg der MAZ: „Wir müssten das öfter machen“, auch wenn die Gäste mit sehr unterschiedliche Voraussetzungen kämen. „Doch Europa ist einfach ein faszinierendes Projekt von christlichen Kulturen, die noch vor gar nicht langer Zeit im Krieg gegeneinander standen. Wie wir das klug auf den Weg bringen in nicht immer freundlicher Umgebung, das ist eine Riesenaufgabe.“
Von Jutta Abromeit