Annette Ditterts Buch "London Calling", der Brexit, Utilitarismus und die Corona-Krise

Innereuropäische Grenzen haben in der Corona-Krise ihre alte Bedeutung wieder zurückgewonnen. Aus aller Welt sind Studenten und Au pairs, Dienstreisende und Urlauber in ihre Heimatländer zurückgekehrt, um sich dem nationalen Krisen-Management zu unterwerfen. Egal ob Italiener oder Franzosen, Tschechen oder Dänen, sie alle sind sich plötzlich selbst die nächsten. Nationale Statistiken und Egoismen bestimmen plötzlich das europäische Erscheinungsbild. Im Umgang mit der Krise zeigen sich die historischen Prägungen und Eigenheiten der Völker. Riskante Strategie: Annette Dittert lebt und arbeitet seit mehr als zehn Jahren als politische Korrespondentin in London. Für die ARD berichtete sie über die Abkehr der Briten von der Idee des geeinten Europas. Aktuell erlebt die Fernsehjournalistin, wie Premier Boris Johnson versucht, auch bei der Bekämpfung des Corona-Virus einen britischen Sonderweg einzuschlagen. In Downing Street 10 wollte man zunächst hinnehmen, dass sich eine große Anzahl der gesunden Bevölkerung mit dem Virus infiziert. „Es ist jetzt nicht mehr möglich, zu verhindern, dass sich fast jeder mit der Krankheit anstecken wird“, ließ Johnson seinen Chefmediziner verkünden. Theater und Schulen blieben geöffnet. Die Bevölkerung müsse „eine Immunität gegen das Virus aufbauen“. Annette Dittert twitterte daraufhin: „Sehr riskante Strategie, die davon ausgeht, dass einmal Infizierte hinterher immun sind. Was nicht final geklärt ist. Politisch auch nicht durchzuhalten.“ Britische Mentalität: Wie die Engländer ticken und warum sie wider alle Vernunft gern alles auf eine Karte setzen, das ergründet Annette Dittert in ihrem unterhaltsam geschriebenen Buch „London Calling“. Darin meint sie: „Die Briten sind eine Seefahrernation. Sie haben gelernt, dass das Wetter und die Welt sich täglich ändern, dass man die Wellen nicht kontrollieren, sie aber reiten kann, solange man Ungewissheit robust und geduldig erträgt und anpassungsfähig bleibt.“ Jedes planvolle, strategisch-langfristig angelegte Vorgehen, wie es in Brüssel und Berlin angestrebt wird, widerspreche der britischen Mentalität, so Dittert. Nostalgische Empire-Gedanken: Dass sie den Brexit für einen absoluten Irrweg hält, daraus macht die Deutsche keinen Hehl. Der Leser begegnet im Buch vielen liebenswerten, oft auch etwas schrulligen Menschen, die sich von der Autorin aber auch fragen lassen müssen, warum sie für den EU-Austritt gestimmt haben. Die Antworten sind oft sentimental und irrational. Nostalgische Empire-Gedanken oder idyllische Autonomie-Ideale werden im 21. Jahrhundert scheitern, macht Dittert deutlich. Über dem Kapitän des „Narrenschiffs“, der den Briten mit einer verlogenen Kampagne das Brexit-Abenteuer eingeredet habe, bricht sie den Stab. Johnson sei ein autokratische Populist, der die Institutionen der demokratischen Demokratie zutiefst verachte. Britten wollen „sich durchwurschteln“: Das Coronakrisen-Managment des Premiers folgt einem ähnlichen Muster. „Die Brexit-Befürworter gedenken ihre Probleme erst dann zu lösen, wenn sie wirklich eintreffen“, heißt es im Buch. Dumm nur, wenn Inkubationszeit und exponentielle Ansteckungskurven die Spielregeln bestimmen. Im Englischen gibt es die Formulierung „Muddling Through“, die Dittert mit „Sichdurchwurschteln“ übersetzt. Das Gesundheitswesen des vereinigten Königreichs ist mit weniger als sieben Intensivmedizin-Betten pro 100 000 Einwohnern herzlich schlecht auf eine Pandemie vorbereitet (Deutschland 29 Betten). Doch darüber sieht der Sprössling aus einer upperclass-Familie einfach hinweg. „Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass noch viel mehr Familien geliebte Angehörige vorzeitig verlieren werden“, so Johnsons Ansage. Katastrophen sind gottgewollt: Damit reiht sich der neoliberale Tory-Politiker in eine extrem hartherzige und pragmatische Tradition des englischen Denkens ein. Im feudalen Klassenstaat beschworen wirtschaftsliberale Philosophen in vielen Varianten „eine alles ordnende wohltätige Hand“. Vor dem Hintergrund des puritanischen Fatalismus ging etwa der Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766-1834) davon aus, dass der Hungertod von Hunderttausenden Menschen gott- und naturgewollt ist. Mit dieser Begründung lehnte die britische Regierung im 19. Jahrhundert die staatliche Armenfürsorge ab. Malthus sprach von einem gedeckten Tisch, an dem aber eben nicht Platz für alle sei. Kosten- und Nutzenrechnungen: Später entwickelte sich in England der Utilitarismus, eine Moral und Ethik, die das für richtig hält, was nützlich ist. Kosten- und Nutzenrechnungen geben den Ton an. Wohlklingende Absichtserklärungen, möglichst viele Individuen zu retten oder auch Fürsorge-Bekenntnisse des Staates sind in London deshalb bis heute weniger angesagt als etwa in Deutschland. Die „Herdenimmunität“ wird für wichtiger erachtet als die sprunghaft steigende Sterberate alter Menschen, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen. Humane Gegenwelt in London: Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) stellte mit der Evolutionstheorie die These auf, dass die am besten angepassten Individuen und Arten höhere Überlebenschancen haben. Seine Formulierung „Survival of the Fittest“ wird allerdings gern falsch ausgelegt. Darwin beschwor nicht das Durchsetzungsvermögen des Stärkeren, sondern Strategien der Lebewesen, um mit widrigen Umweltbedingungen klarzukommen. Die welterfahrene Korrespondentin Annette Dittert schwärmt in ihrem Buch auch von einer „humanen, liberalen, vernünftigen“ Gegenwelt, die sie ebenfalls in England erlebt. Dank dieser fühle sie sich dort auch „uneingeschränkt zu Hause wie nirgendwo sonst auf der Welt“. Annette Dittert: London Calling. Als Deutsche auf der Brexit-Insel. Atlantik, 286 Seiten, 14 Euro. Von Karim Saab

Eine andere Tradition des Denkens - Brexit, Corona: Die Ursachen für den britische Sonderweg