Berlinale Wettbewerb 2020: Filmkritik zu Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani

Franz Biberkopf: Das war der wuchtige Heinrich George im Film „Berlin Alexanderplatz“ von 1931. Günter Lamprecht spielte den Kraftmenschen Biberkopf 1980 in Rainer Werner Fassbinders Fernsehserie. Und jetzt verkörpert der im westafrikanischen Guinea-Bissau geborene und in Portugal aufgewachsene Welket Bungué, der zuvor noch nie in einem deutschen Film mitgespielt hatte, den Mann, der die feste Absicht hat, ein guter Mensch zu sein. Zunächst heißt Franz noch Francis. Er hat schwarze Haut. Wir bewegen uns auch nicht in den letzten Jahren der Weimarer Republik, sondern in unserer Gegenwart. Francis kommt nicht aus der Strafanstalt Tegel und ist auch nicht der triebhaft-dumpfe Gelegenheitsarbeiter, den wir aus Alfred Döblins Jahrhundertroman von 1929 kennen. Regisseur Burhan Qurbani hat sich diesen berühmten Stoff gegriffen und allen Ballast der bisherigen Umsetzungen abgeschüttelt. Aktueller lässt sich ein Klassiker kaum interpretieren. Francis kommt über das Mittelmeer zu uns. Er ist ein Flüchtling, auch wenn er nicht so genannt werden will. „Neuankömmling“ oder „Einwanderer“ ist ihm lieber, obwohl er sein ganzes Leben lang auf der Flucht war, wie er später erzählt. Als er auf dem Weg nach Europa beinahe gemeinsam mit seiner Geliebten ertrinkt und mit letzter Kraft um sein Leben ringt, schwört er bei Gott, ein anständiger Mensch zu werden. Wenn ihn die Panik ergreift, kann sich die Leinwand schon mal um 180 Grad drehen. Sein Fluchttrauma und die damit verbundenen Schuldgefühle wird Francis nie wieder los. In Berlin ist Francis ein Illegaler, ein Ausgestoßener. Ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis existiert er gar nicht. Aber er hat ein Ziel: Er will vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte. Er will mehr als nur ein Bett und ein Butterbrot. Er will seine Würde zurück. Und er will, nun ja, ein bürgerliches Leben. Der Regisseur wohnt selbst an der Hasenheide: Alle haben jüngst begeistert auf die Serie „Babylon Berlin“ nach der Romanvorlage von Volker Kutscher geschaut. Den großen zeitgenössischen Text über die Zwanziger hat jedoch Alfred Döblin 1929 geschrieben. In seiner Collagen-Meisterschaft erinnert er an andere große Werke der Weltliteratur wie „Ulysses“ von James Joyce und „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos. Burhan Qurbani hat sich dem Thema Rassismus schon früher angenommen. In seinem Abschlussfilm „Shahada“ (2010) an der Filmakademie Baden-Württemberg erzählte er von drei Muslimen in Berlin. Aufmerksamkeit erregte er mit „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2015) über die rassistisch motivierten Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Qurbani ist gebürtiger Rheinländer und Sohn afghanischer Flüchtlinge, die 1979 nach Deutschland kamen. Flüchtlingsgeschichten kennt er. In Berlin wohnt er am Volkspark Hasenheide und sieht täglich die zumeist schwarzen Drogendealer. Da kam ihm die Idee, dass ein heutiger Franz Biberkopf einer von ihnen sein könnte. Den Roman „Berlin Alexanderplatz“ hatte er wie so viele andere auch fürs Abitur gelesen. Zwischen Strip-Clubs und Ekel-Unterkünften: Qurbani malt sein multikulturelles Franz-Biberkopf-Berlin in schrillen, bunten Farben, nimmt die Zuschauer mit in Strip-Bars und Clubs mit wummernden Bässen. „Transen, Amazonen und einarmige Banditen“ tummeln sich hier, wie es einmal heißt. Wir bewegen uns auf Baustellen, wo Flüchtlinge schuften, und in widerlichen Wohnunterkünften, wo sie eingepfercht werden und sich prostituieren. Der Handlung des Romans bleibt der Regisseur treu. Auch sprachlich blitzt das Original auf – wodurch ästhetische Distanz aufgebaut wird und der Film übers Sozialdrama hinausreicht. Vom „Schnitter Tod“ ist aus dem Off die Rede und auch von der „großen Hure Babylon“. So wie bei Christian Petzolds gewagter Verfilmung von Anna Seghers Roman „Transit“ (2018) verwischen die Zeiten. Albrecht Schuch als Bären-Kandidat: Franz will sich von allem Ungemach fernhalten – er hat es geschworen. Aber da ist Reinhold , ein großer Menschenverführer. Wenn einer wie Reinhold um einen ist, wird es auf Dauer schwer mit der Anständigkeit. Albrecht Schuch (der zupackende Sozialarbeiter in „Systemsprenger“ und der durchgeknallte Investmentbanker in „Bad Banks“) gibt Reinhold als Psychopathen mit Potenzial zum Serienkiller. Einmal scheint es so, als könne es doch noch gut gehen für Franz, als er Mieze (Jella Haase, ganz ohne ihr Proll-Image aus „Fack ju Göhte“) begegnet. Mieze ist als Escort-Dame unterwegs. Sie ist selbstbewusst und westlich arrogant kann sie auch sein, wenn sie sich über Franz ärgert: „Wir sind hier nicht in Afrika“, sagt sie. Mieze ist auch die Erzählstimme aus dem Off, die immer wieder Romanzitate über die atmosphärisch dichten Bilder legt. Großer Wurf und Berlinale-Highlight: Für Franz ist Mieze die große Liebe, und er ist das auch für sie. Sie wollen aussteigen, raus aus der Kriminalität, eine Familie gründen, das ersehnte bürgerliche Leben führen. Doch Aussteigen ist keine Option für Reinhold. Und Reinhold hält es auch nicht aus, wenn sich zwei mehr lieben als ihn. Wir wissen, wie die Geschichte ausgeht. „Berlin Alexanderplatz“ in dieser dreistündigen Neufassung ist ein großer Wurf – und ein Ereignis der Berlinale, die über manchen Tag ohne Höhepunkt dahinplätscherte. Der italienischstämmige Berlinale-Chef Carlo Chatrian hatte zu Beginn eine Empfehlung für deutsche Regisseure parat: Sie sollten nicht immer nur aufs heimische Publikum schauen, sondern größer denken. Am kommenden Sonnabend werden wir bei der Bären-Vergabe erfahren, wie die Jury um Jeremy Irons die internationale Wettbewerbsfähigkeit von „Berlin Alexanderplatz“ beurteilt. Auf der Berlinale ist „Berlin Alexanderplatz“ noch zu sehen am Donnerstag, dem 27. Februar, um 9.15 Uhr im Friedrichstadt-Palast und um 15 Uhr im Haus der Berliner Festspiele, sowie am 1. März um 17.15 Uhr im Berlinale Palast. Am 16. April läuft der Film regulär im Kino an. Lesen Sie dazu auch: Die Berlinale-Tipps der MAZ-Redaktion Babelsbergerin begeistert mit Berlin-Film „Kokon“ Misel Maticevic brilliert im Rassismus-Drama „Exil“ Von Stefan Stosch

Filmkritik zu „Berlin Alexanderplatz“ - Wie Flüchtlinge in Berlin zu Drogendealern werden