Das Wurschteln ist in Corona-Zeiten die beste aller Lebensformen

Dieser Text entsteht in dünner Luft, auf dem Küchentisch neben zwei Weingläsern, die gestern geleert wurden. Rechts der Salzstreuer, links ein kleiner, trockener Petersilienzweig. Auf dem Schreibtisch, im anderen Zimmer, wo die Arbeit unter den aseptischen Bedingungen des Feuilletons sich in normalen Zeiten eingerichtet hat, herrscht im Moment ein anderes Leben. Dort regieren Playmobilfiguren. Ein Ensemble, das zu schön ist, um es einfach wegzuwischen. Der Schreibtisch ist nicht mehr der Lebensraum für einen Laptop. Das Kraftverhältnis hat sich nun verschoben. Die Dinge werden in den Nischen erledigt. Man erledigt sie unrasiert, unaufgeräumt, unorganisiert. Einkaufszettel lesen sich wie Wunschzettel, sie werden fabuliert wie wilde, unanständige Träume. Wo früher „Aufschnitt“ stand, schreibt man jetzt „120 g von der ungarischen Salami, sehr dünn geschnitten, die zum frischen Baguette und dem schweren Bordeaux passt.“ Wer solche Zeilen schreibt, fühlt sich fast als Künstler – auch, wenn er unterm Strich ein unrasierter, unaufgeräumter, unorganisierter Mensch bleibt. Wer von 120 g ungarischer Salami schreibt, gibt sich dem Gefühl hin, dass er die Kultur in seinem Leben noch nicht aufgegeben hat. Kultur, das heißt: Die Dinge auf eine andere Ebene heben. Sie nicht im Zustand der Natur belassen, sie dem Chaos zu entreißen. Einen Plan zu haben. Und eine These. Alte Star-Wars-Filme gucken: Das alles ist erstmal vorbei. Kultur heißt auch, nach außen zu treten, auf eine Bühne zu steigen, etwas zu zeigen, das man vorbereitet hat. Von einer Gegenwart zu reden, die Grund unter den Füßen hat. Von einer Zukunft zu sprechen, der man einen Traum abringt. Im Moment fällt das schwer. Wir vermessen unsere Wohnung, die wir kaum noch verlassen, wir vermessen nicht mehr unsere Träume, die sich nur noch zwischen leeren Rotweingläsern und trockenen Petersilienzweigen eingerichtet haben. Wir sehen, dass wir eigentlich mal wieder saugen müssten. Und gucken dann doch lieber einen alten Stars-Wars-Film, weil er uns an Zeiten erinnert, in denen man irre Sachen im Fernsehen sah, und dann hinausging in die sehr vertraute, gut gewärmte Stammkneipe. Heute bleibt man im vertrauten, gut gewärmten Zuhause und sieht draußen das wohl Allerirrste: Leere! Der Platz am Brandenburger Tor ist leer, die kleinen Urlaubsorte an der Seenplatte zeigen sich fast ohne Menschen. Wenn man das Saugen, Rasieren, Aufräumen und den alten Arbeitsplatz aufgibt, nur noch von Salami träumt, nicht mehr von der Zukunft, dann tritt man in das Zeitalter des Wurschtelns. Das ist nicht schlecht, hat aber im Kulturteil keine hohe Konjunktur. Wie gesagt, Kultur ist Disziplin, auch wenn man von Künstlern gerne als Luftschiffer oder Tagedieben spricht. Das stimmt nicht, sie sind auf den Punkt vorbereitet. Selbst so ein Zeitungstext braucht eine These, und wenn er keine hat, dann gute Nacht. Kinder wurden „wegorganisiert“: Die These dieses Textes: Spätestens seit Thomas Mann ist uns bewusst, dass das Wurschteln der natürliche Feind des Künstlers ist. Thomas Mann war ein Autor der Akribie, er lebte streng nach Rhythmus, was Teetrinken, Schreiben und Mittagsschlaf anging. Die Kinder, generell die größten Künstler des Wurschtelns, ließ er „wegorganisieren“, wenn er Ruhe brauchte. Dafür gab es Katia, seine Frau. Heute gibt es nicht mehr viele Katias, die beflissen ihrem Mann den Lärm vom Hals halten. Weil sie meist selber arbeiten, aus Lust oder aus Not. Aus einer Katia, die auf Kinder aufpasst, ist heute die Kita geworden. Und wenn die Kita und die Schulen schließen, geht es mit dem Wurschteln richtig los. Gucken wir auf die Maler. Waren das nicht große Wurschtler? Picasso, ein pinsel- und, pardon, schwanzgesteuerter Abenteurer, der sich sicherlich nicht seine Maltermine minutiös in einen Tagesplaner eintrug... Man täusche sich nicht. Gerade Maler sind besessen. Sie arbeiten nicht nach Termin, aber nach Obsession. Wenn das Malen fehlt, schleichen sie wie Raubkatzen durchs Atelier. Oder schneiden sich im maximal unglücklichen Fall ein Ohr ab. Sie brauchen die Arbeit, sonst geht es nicht. Am Wurschteln würden sie zugrunde gehen. Das tägliche MAZ Corona-Update als Newsletter Alle News zum Coronavirus in Brandenburg täglich gegen 17 Uhr im E-Mail-Postfach Weil Kinder die Meister des Wurschtelns sind, muss man im Nachwuchsregal blättern. Fündig wird man im Roman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Ein Buch, das 2010 als Jugendroman veröffentlich wurde – genau genommen ist es aber eine Story für Erwachsene, die sich in eine eigene, verklärte, endlich coole Jugendzeit zurückträumen. Nicht zufällig ähnelt das Buch der Gattung „Roadmovie“, diesen Filmen, die von Ort zu Ort ziehen. Niemand weiß, was sie im neuen Ort erwartet. Literarisch etabliert hat diese Form Homer in seiner „Odyssee“, erschienen um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr. Herrndorf schickt zwei große Wurschtler ins Rennen, einerseits Maik, andererseits Tschick, einen Sohn osteuropäischer Einwanderer. Sie sind Mittelstufenschüler, knacken einen Lada und fahren los, so weit die Tankfüllung sie trägt. Schauen bei einer Party vorbei, zu der sie nicht eingeladen sind, lernen ein Mädchen auf der Müllhalde kennen und treffen beinharte Ökokinder. Sie haben kein Ziel, das macht sie stark – sie haben keinen Stundenplan, darum gelingt ihnen so viel. Wenn sie nicht mehr weiter wissen, kaufen sie sich eine Riesenpackung Gummitiere. Auch heute gilt so eine grelle Tüte noch als Kraftzentrum des Wurschtelns, das jetzt zu neuer Blüte treibt. Von Lars Grote

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