Dirk Peitz evaluiert in "Fernblick" Elon Musk, Huawei, Google und Kalifornien

Ein Leben ohne Apple, Microsoft und Google, ohne Amazon, Tesla und Wikipedia, ohne Facebook, WhatsApp und Instagram können sich die meisten Menschen heute gar nicht mehr vorstellen. Dabei ist es nur 13 Jahre her, dass Apple sein erstes iPhone herausgebracht hat. Dirk Peitz hat den Siegeszug der sich permanent übertreffenden Hard- und Softwareneuheiten als Kulturjournalist begleitet. Alle wesentlichen Entwicklungen wurden im kalifornischen Silicon Valley ausgeheckt. In seinem Buch „Fernblick. Wie wir uns die Zukunft erzählen“ besichtigt der 49-Jährige die Ursprungsorte der Innovationen, um die Triebkräfte und die Auswirkungen der digitalen Revolution zu ergründen. Ufo in einer Vorstadtgegend: Konzerne behaupten gern, die Zukunft zu kennen. Einer hat sich bei seinen Präsentationen besonders eifrig als Visionär aufgespielt. „Apple sieht die Zukunft nicht nur voraus, Apple erschafft sie“, tönte es zuletzt im September 2018, als Peitz nach Cupertino in die Firmenzentrale eingeflogen wurde. Der Reporter beschreibt das von Architekt Norman Forster entworfene „ringförmige Gebäude aus Glas und Aluminium“, in das die etwa 12 000 Mitarbeiter gerade eingezogen waren. Das Solitär mit einem Park in der Mitte wirke „glatt wie die Benutzeroberfläche der Apple-Geräte“. Die Botschaft des Bauwerks: „Entweder man gehört zum Kreis oder nicht.“ Wie ein Ufo stehe „The Ring“ in einer „eher tristen, engen“ Vorstadtgegend, so Peitz. Hässliche Firmengelände: So formvollendet trumpfen die anderen Hightech-Konzerne nicht auf. „Für das Steinwerden der Ideen glaubt man im Silicon Valley einfach keine Zeit zu haben“, „nichts im Silicon Valley ist für die Ewigkeit gemacht, jeder Erfolg ist nur vorläufig“, erklärt Peitz die städtebaulichen Hässlichkeiten südlich von San Francisco. Bei seinen Pilgerfahrten zu den Weltfirmen trifft er vor allem auf „Fertigbaubüroklötze aus Stahl, Glas und manchmal auch ein wenig Beton“. Jedes seiner elf Kapitel hat er mit dem Namen eines Ortes überschrieben, an dem sich die Technologiepioniere niedergelassen haben. Die Firmengelände von Facebook in Menlo Park („schmucklose Plattenbauten“, „erschütternd großer Parkplatz“) und von Tesla in Los Angeles („ranziges Industriegebiet“) machen besonders wenig her. Unbekanntes Territorium lockt: Doch mit ihren Visionen krempeln Firmengründer wie Tesla-Chef Elon Musk die Welt um. „Die Tech-Milliardäre sind heute die größten Geschichtenerzähler“, meint der Valley-Futurist Paul Saffo, den Peitz interviewt. Warum die Menschen ausgerechnet an der Westküste Amerikas auf die Idee gekommen sind, etwa Mikroprozessoren, das Internet oder auch eine Mars-Rakete zu entwickeln, diese Frage drängt sich auch Dirk Peitz auf. Den Verdacht, dass die die Techno-Revolutionäre alte Science-Fiction-Romane gelesen haben, verwirft der Autor am Ende, verweist aber auf zwei längst gängige kulturgeschichtliche Annahmen. Zum einen sei es typisch amerikanisch, die Grenzen „hin zu unbekanntem Territorium“ zu überwinden. Nach der Eroberung des Wilden Westens hätten die „Frontiers“ den Cyberspace als das „neue Land hinter dem Horizont“ erschlossen. Da der Pazifik den Weg für weitere Landnahmen versperrt, richtet sich die Aufmerksamkeit etwa von Elon Musk in die Vertikale, ins All. Träumereien: Bereits in den frühen Siebzigerjahren, so Peitz, habe die kalifornische Gegen- und Hippie-Kultur immaterielle Grenzüberschreitungen praktiziert. Damals habe man durch Träumereien, Rauschzustände und spirituelle Techniken versucht, Geist und Psyche zu erweitern. Diesen Hypothesen fügt Dirk Peitz in seiner Bestandsaufnahme keine neuen Argumente hinzu. Sprunghaft und etwas willkürlich diskutiert er die eine oder andere These und führt auch viele negative gesellschaftliche Folgen an, die übermächtige Algorithmen und Konzerne angerichtet haben. Seine Orts- und Milieubeschreibungen, von denen er stets ausgeht, bleiben oft blass. Das gilt gerade für San Francisco. Der kulturellen Metropole der Boomregion widmet er ein Kapitel, in der er die Ungewissheit der Zukunft verhandelt, die es „zu managen“ gelte. Dass die Einwohner in San Francisco seit Jahrzehnten ein Erdbeben fürchten, erwähnt er nicht. Dafür schenkt er der Dynamik des dortigen Wohnungsmarktes Beachtung. Die hohe Kaufkraft der vielen Ingenieure habe zur Folge, dass ein Einzimmerappartement heute monatlich 3500 Dollar koste und die Obdachlosigkeit extrem sei. Aufstand gegen Altern und Tod: Im Silicon Valley lässt Peitz wichtige Stationen wie Palo Alto (Stanford Universität) oder Mountain View (Google) aus. Dafür macht er von Los Angeles aus zwei Abstecher. Einen ins Landesinnere nach Scottsdale in die Wüste von Arizona, wo eine Firma zahlungskräftige Verstorbene einfriert – mit der unbestimmten Aussicht, sie eines Tages zu neuem Leben zu erwecken. Und einen an die mexikanische Grenze nach San Diego, wo das RAAD-Festival jedes Jahr Menschen versammelt, die sich mit der Sterblichkeit nicht abfinden wollen. RAAD steht für „Revolution Against Aging und Death“ (Aufstand gegen das Altern und den Tod). Peitz besucht auch die Veranstaltung einer „Denkfabrik“ in Washington. Die Headquarters von Microsoft (in Redmond) und Amazon (in Seattle) an der Nordostküste der USA spart er aus. Die Konkurrenz in China: Dafür durfte Dirk Peitz im März 2019 mit einer Journalistengruppe eine Reise nach Shenzhen unternehmen (der Suhrkamp-Verlag hat hier leider die Kapitalüberschrift vertauscht). Der Bericht soll dem Leser die wachsende Konkurrenz der chinesischen Supermacht vor Augen führen. Auf dem skurrilen Gelände des Huawei-Konzerns wurde das Heidelberger Schloss als eine von zwölf europäischen Sehenswürdigkeiten nachgebaut. Der Staatkonzern erweckt also keinesfalls den Eindruck eines Provisoriums. Das letzte Kapitel ist mit „Berlin“ überschrieben und beginnt mit den Worten „Atmen, Atmen!“ Der weltreisende Spezialist für Utopien und Dystopien ist plötzlich an seinen Ausgangspunkt gefesselt. Von der Gefahr einer Pandemie war in all den Zukunftsszenarien keine Rede. Auch die Mitarbeiter in den großen Konzernzentralen, etwa bei Apple, stecken derzeit im Homeoffice fest. Und Peitz räumt ein: „Sich vorzustellen, was nach der Corona-Krise kommen könnte, ist überall auf der Welt weit schwieriger.“ Dirk Peitz: Fernblick. Wie wir uns die Zukunft erzählen. Suhrkamp Nova, 320 Seiten, 16 Euro. Von Karim Saab