Klanginstallation „Eleven Songs“ in der Halle am Berliner Berghain

Nach einer knappen Viertelstunde wirkt es, als sei das Berghain aus dem coronabedingten Dornröschenschlaf erwacht. Der aus 24 Lautsprechern dringende Sound klingt, wie ein Typ, der auf Speed in eine Schreibmaschine hämmert. Dazwischen ein Zischen, dass an Maschinen erinnert, die Kunstnebel ausstoßen. Unterbrochen von ruhigeren Sequenzen ergänzen sich immer wieder urbane Geräusche – zum Beispiel Straßenlärm - und ergeben einen eigenen Rhythmus. Die Komposition erinnert schon fast an Minimal Techno. Ein reduzierter, harter Sound, den die Berghain-DJs in Perfektion variieren. Doch durchtanzte Partynächte im Berghain sind weiterhin verboten, der Club ist wegen Corona geschlossen. Stattfinden darf nur die Klanginstallation in einer mehr als 20 Meter hohen Halle in demselben Gebäude. Einst standen hier Heizkessel, jetzt vereinnahmt der Sound den Raum ganz für sich. Vom Schlackekeller geht es hinauf in die Kesselhalle: Das Werk des österreichischen Künstlerduos „tamtam“, bestehend aus Sam Auinger und Hannes Strobl, gliedert sich in elf Abschnitte. Es trägt den Titel „Eleven Songs –Halle am Berghain“. Das Hörerlebnis mutet alles andere als ermunternd an, vor dem geistigen Auge eröffnen sich Abgründe. Und doch schaffen es die Künstler, diesen Industrieort, der seinen eigentlichen Zweck vor vielen Jahren verlor, zu reanimieren. Der Gang beginnt im Schlackekeller und führt über eine offene Treppe in die Kesselhalle. An manchen Stellen liegt abgebröckelter Putz auf dem Boden, freigelegte Backsteine sind zu sehen, dazu Rußreste an den Wänden. Oben angekommen offenbart sich die überwältigende Größe des Gebäudes, in das neben der Halle schließlich auch ein Club für 1500 Menschen und etliche Gänge und Nebenräume passen. Durch Deckenfenster flutet Licht in die Halle: Durch freigelegte Deckenfenster flutet Licht in den eigentlich düsteren Raum. Einer der Organisatoren sagt schmunzelnd, er hätte am liebsten zwei statt 50 Menschen gleichzeitig in die Ausstellung gelassen. Aber auch in größerer Anzahl mutieren die wie auf einem akustischen Abenteuerspielplatz umhertigernden Besucher zu Winzlingen im Verhältnis zur riesigen Halle, den vor der Decke herabhängenden Kohleschütten und mehr als 20 Meter hohen Pfeilern. Die Künstler wollen einen Klangraum schaffen, „der mit dem Raum-Zeit-Empfinden der Besucher spielt – der Raum beschleunigt und verlangsamt, erhellt und verdunkelt sich“. Zwischen den alles andere als anheimelnden Industriegeräuschen, die an startende Helikopter erinnern, platzieren Auinger und Strobl ruhigere Sequenzen. Diese Minuten wirken als akustische Entspannungsphasen. Ein höherer Ton bleibt stehen, wie bei nachhallendem Orgelklang. Kino fürs Kopf. Die Assoziationen sind frei. Tropfsteinhöhle, fliegender Bumerang, dumpfe Schritte – vieles fällt einem ein. Aber die meisten werden sich einigen können, dass das Spiel mit leise und laut bedrohlich wirkt. Wäre es Filmmusik, sie würde bestens zu einem dystopischen Thriller passen. Ganz amüsant ist dagegen, was der akustische Streifzug mit dem jungen und sehr internationalem Publikum macht. Der Hall im Raum verzeiht kein Räuspern und Rascheln. Jedes aus Versehen gekickte Steinchen kullert so laut, dass man sich automatisch als Blickfang fühlt. Viele hören die Klanginstallation trotz der monumentalen Hingucker-Architektur sitzend oder liegend, mit geschlossenen Augen oder starren Blick an die Decke. Eine Besucherin liegt bäuchlings auf dem Boden, als sei sie gerade nach einem 48-Stunden-Durchtanz-Wochenende aus dem Club herausgestolpert. Nach 55 Minuten endet der Trip abrupt: Die Installation wirkt auf alle anders, sie gibt nichts vor. Jeder ist hier auf sich selbst zurückgeworfen. Keine Geschichte, die einen an die Hand nimmt. Nur der leere Raum. Selbst die meisten der Lautsprecher liegen in nicht sichtbaren Winkeln der Halle. Die Kunst erweckt diesen Ort, der einst für Industrie und Schufterei stand, zu neuem Leben. In coronabedingt kulturarmen Zeiten bietet „Eleven Songs“ die Chance, das eigene Bewusstsein zu füttern. Nach 55 Minuten endet dieser Trip mit hochgepegelter Lautstärke und abruptem Schluss. Ein Besucher bleibt engelsgleich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden liegen. Es sieht aus, als huldige er der Halle – dieser Kathedrale der Klänge. „Eleven Songs – Halle am Berghain“ ist noch von Mittwoch, 29. Juli bis kommenden Sonntag, 2. August. zu besuchen. Geöffnet ist von 14 bis 20 Uhr, gegen 19 Uhr beginnt jeweils die knapp einstündige Klanginstallation. Besucher müssen einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Es empfiehlt sich wegen des großen Andrangs frühes Erscheinen, um auch noch reingelassen zu werden. Der Eintritt kostet 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Von Maurice Wojach