Warum Spazierengehen immer noch im Trend ist

Goethe, der Coverboy der deutschen Literatur, sprach im „Faust“ vom Osterspaziergang. Das können wir nicht ändern. Wir schnüren also brav die Stiefel, gerade in den nächsten Tagen. Doch niemand hat in Brandenburg damit gerechnet, dass wir weit vorm Osterfest des aktuellen Jahres wieder über das Spazierengehen reden müssen. Wir hatten doch 2019 erst Fontanejahr, zum 200. Geburtstag des Neuruppiner Dichters. Mit dem Bücherlesen war es damals nicht getan, denn wer die Sache ernst nahm, schmierte sich ein Brot als Proviant und folgte seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ – er hinterließ sie nicht als Literatur, sondern als Gebrauchsanweisung. Fontane lud uns ein, Brandenburg als Abenteuerspielplatz zu entdecken. Als kultivierten Trampelpfad, der ungeahnte Sehenswürdigkeiten an den Rändern bot. Ja, manchmal war es schwierig, zwischen all den Fußnoten, historischen Verweisen und den Stammbäumen der höheren Familien so etwas wie Abenteuerlust zu finden. Doch als das Jahr zu Ende ging und unsere Waden von den Wanderungen schmerzten, waren wir uns sicher: Die nächsten Jubiläen feiern wir, wenn möglich, ohne Fußmarsch. Im Beethovenjahr 2020, zum 250. Geburtstag des Komponisten, müssen wir nur rüber ins Konzerthaus, dachten wir. Und 2021, so sahen wir das damals, würden wir den 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt, Sophie Scholl, Joseph Boys und Peter Ustinov feiern. Ehrenwerte Leute. Das könnten wir vom Sofa aus erledigen. In Ruhe. Peng, jetzt haben wir 2021, und die Ruhe bringt uns um. Unser Sofa ist das Mahnmal eines körperlichen Niedergangs. Wir wollen vor die Tür – und selbst die Menschen, die schon bei der Nennung Theodor Fontanes zucken, weil er „Effi Briest“ als Schullektüre in die Welt gesetzt hat, wären jetzt bereit, mit Butterbrot und Kompass (bzw. der Maps-Google-App) loszulaufen, auf den Spuren seiner Wanderschaft. Hauptsache raus, auf der Suche nach singenden Vögeln, Sonne und anderen Menschen. Die Bewegung ist jetzt Selbstzweck, der Gang vors Haus ist eine Physiotherapie in eigener Sache. Die Wohnung zu verlassen, das ist wichtig, denn sie wirkt für manche nun wie ein Gefängnis. Aber muss man gleich, bei dieser Form von Notwehr, zum neuen Modewort „Spaziergang“ greifen? Spaziergang, das war damals, als er in das eigene, junge Leben trat, die rigorose Maßnahme am Sonntag, steif und formvollendet vorbereitet wie ein Kirchgang. Vater in geputzten Schuhen, Mutter mit dem Spritzer Kölnischwasser. So fuhr man raus, in den Wald und auf die Weiden, wo man die Nachbarn wiedertraf. Häufig steckte eine leere bürgerliche Inszenierung in dem Wort. Freude war nicht vorgesehen. „Spaziergang“ klingt arglos: So lief das eine ganze Weile. Der „Spaziergang“ tauchte erst vor ein paar Jahren wieder auf, als Wort der Tarnung – die so verdruckst gewirkt hat wie der Geist jener Versammlung, wo das Wort gefallen ist: In Dresden nahm es die „Pegida“ auf in ihren offiziellen Sprachgebrauch, sagte nicht „Demonstration“, weil das zu aufgebracht, zu wütend und zu etabliert geklungen hätte, sondern hatte aufgerufen zum „Abendspaziergang“ von „besorgten Bürgern“. Leute, die von sich behaupten, dass sie endlich Klartext sprächen, versteckten sich hinter dem Wort „Spaziergang“, weil es arglos klingt. Und plötzlich reden alle von dem Terminus im Jahr 2021, nicht mehr im Sinne von „Pegida“ allerdings, doch im Dienst der eigenen Gesundheit. Das Wort „Spaziergang“ ist ersetzbar, wenn man seinen angestaubten Sound umschiffen will: „Walk and Talk“, Gehen und Unterhalten, sagen jetzt die Menschen, die auch nicht mehr von „Mittagessen“ reden, sondern von „Business Lunch“. Lesen Sie auch Wanderwege in der Region: Auf den Spuren der Familie von Rochow Milower Land: Wandern gegen den Corona-Blues Wandern auf den Spuren Fontanes Um dem Spaziergang seinen alten, biedermeierlichen Klang zu nehmen, greifen Menschen jetzt zu Kopfhörern, wenn sie eine Runde drehen. Denn Kopfhörer, so viel ist sicher, hätten Vater und Mutter nie erlaubt. Mit Vibes im Ohr wird alles gleich zu einer anderen Sportart. Die Leute hören nun Musik und Podcasts, weil sie Angst vor ihren eigenen Gedanken haben, die sich beim Gehen wie von selbst entwickeln – denn der Kopf arbeitet immer dann am besten, wenn der Körper sich bewegt. Aktuell sind die Gedanken meistens dunkel, darum möchte man sie übertönen mit Musik. Wandern taugt besser zur Weltflucht: Wie wir es drehen oder wenden, das Wort „Spaziergang“ steht bald wieder vor der Tür, in seiner noblen Variante, als „Osterspaziergang“. Goethe hat ihn in den „Faust“ gesetzt, seither wohnt er in unser aller Leben. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/ Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück.“ Der Winter soll hier ausgetrieben werden, der Frühling wird begrüßt. Der Winter ist die Einsamkeit der Stube, der Frühling steht fürs Streben nach der Sonne. Ist Goethe angreifbar, darf man den Ausflug schwänzen? Man kann ihn kontern mit dem anderen Dichter, mit Fontane aus der Mark, der aufs Wandern setzte, nicht aufs Spazierengehen. Wandern klingt kerniger. Beim Spazierengehen dreht man sich am Ende einmal um sich selbst, ums eigene Wohnhaus oder um das eigene Dorf. Die Strecken sind zu kurz, um sich und seinem Tunnelblick tatsächlich zu entkommen. Das Wandern taugt zur Weltflucht besser, es treibt den Puls nach oben, es führt mental zur Höhenluft. Goethe hat beim „Faust“ den Teufel im Gepäck, den Mephistopheles. Wir haben bei Fontane nur die Stulle im Rucksack. So gesehen schneiden Freunde von Fontane deutlich besser ab. Von Lars Grote