Die Verletzlichkeit des Menschen

Ein wenig Spott ist in ihrem Blick. Die Wäscherin Cornelia Anke schaut selbstbewusst in die Kamera. Es ist das Gesicht einer 22-Jährigen, die weiß, dass sie das Leben noch vor sich hat. Der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz hat die junge Dame Anfang 1989 fotografiert. Es ist eine von mehreren Aufnahme in einer Schwarz-weiß-Serie, die an die „Straßen der Besten“ erinnert. „Ich wollte mit diesen Bildern die Realität reinbrechen lassen“, sagt Gaudlitz. Und das war ihm gelungen. Denn die ist unter den Porträts zu sehen. Dort wo in der DDR lobende Worte über die abgebildete Person standen hat er jeweils ein zweites Foto über die Arbeitsbedingungen hinzugefügt. Von Cornelia Anke sind nur zwei Arme zu sehen. Denn sie selbst ist von aufgehängten Kleiderbügeln mit schweren Klamotten verdeckt. Ein erdrückendes Foto. Die Ausstellung „Ost.Süd“ zeigt 250 Arbeiten: Was bleibt vom Menschen? Von der Menschlichkeit, von der Würde? Das ist es wohl, was Frank Gaudlitz interessiert. Im Potsdam-Museum ist von Sonnabend an die erste große Retrospektive seiner Arbeiten seit 1986 zu sehen. Mit „Ost.Süd“ ist die Schau überschrieben, in der von Sonnabend an insgesamt 250 Bilder aus sämtlichen Schaffensperioden gezeigt werden. „Ost.Süd“ lautet der Titel, weil die Bilder größtenteils das Ergebnis von Reisen nach Russland, Osteuropa und später nach Südamerika sind. Landschaftsfotos, Stillleben und immer wieder Porträts. Mit dem Fotografieren begonnen hat Gaudlitz nachdem er Ärger in seinen Job als Heimerzieher bekommen hatte und von der Stasi überwacht wurde. Das erste Foto in der Ausstellung lässt erahnen, in welcher Lebenskrise er sich 1986 befand: Ein männlicher Akt steht am offenen Fenster einer Dachgaube in einem Abrisshaus im Holländischen Viertel in Potsdam und stemmt sich mit den Armen gegen die Seitenwände, das Gesicht verzweifelt zum Boden gedreht. Ein emotionales Bild, das die Verletzlichkeit und Verzweiflung eines Menschen zeigt. Das hilflos Ausgeliefertsein des Einzelnen an die sozialen Verhältnisse sind ein Grundmotiv des mittlerweile 62-jährigen Fotografen, der es anschließend an die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig schaffte. Ein Motiv, das immer wiederkehrt. In den später aufgenommenen Serien über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland, in der Langzeitstudie „Russian Times“ für die Gaudlitz zwischen 1988 und 2018 mehrfach in Russland war, um den Niedergang einer Gesellschaft zu dokumentieren, in der Bilderserie „Warten auf Europa“ über das Leben der Menschen in Osteuropa in den Jahren kurz vor der EU-Osterweiterung 2005 oder in der Porträtserie von Transfrauen im Amazonasgebiet. Stillleben von barocker Schönheit: Dabei hat sich der Stil seiner Fotografien immer wieder gewandelt – von den anfangs noch in Schwarz-weiß gehaltenen dokumentarischen Arbeiten bis zu den späten Amazonasbildern. In prallen Farben und mit viel Schminke inszenieren sich etwa die unter schwersten Diskriminierungen leidenden Transfrauen. Gaudlitz montiert Stillleben mit Lebensmitteln von barocker Schönheit daneben – das Leben in seiner Blüte und Vergänglichkeit. Ein Schicksal, das auch die Träume dieser Frauen ereilen wird. Gaudlitz geht nah ran, ohne die Würde seiner Protagonisten zu verletzen. Trotzdem geben diese Fotos viel preis. Wie das Gesicht von Drahoslava Helmesová. Verloren steht die 43-Jährige im karierten Mantel an einer verlassenen Straße in der Slowakei. Neben ihr eine vollgestopfte Plastetasche. Zweifelnd, vielleicht sogar verzweifelt schaut sie in die Kamera. 2004 war das, am Vorabend des Beitritts zur EU. „Ost.Süd“. Frank Gaudlitz. Fotografien 1986-2020. Potsdam-Museum, Di-So, 12-18 Uhr. Bis 31.1.2021 Von Mathias Richter

"Ost.Süd" - Frank-Gaudlitz-Retrospektive im Potsdam-Museum