Politiker im Wahlkampf in der Prignitz: Jean Boués Film "Die Unerhörten"

Jean Boué, 1961 in Hamburg geboren, arbeitet seit Anfang der Neunziger Jahre als Autor, Regisseur und Produzent von Dokumentarfilmen. Seit 2013 ist er Lehrbeauftragter an der Babelsberger Filmuniversität. Herr Boué, wann entstand die Idee, einen Film über Politiker im Wahlkampf in der Prignitz zu machen? Jean Boué: Die Idee, einen Film über die Landbevölkerung zu machen, entstand im Sommer 2017, zu den Landtagswahlen hat es sich fokussiert und im vergangenen Herbst begannen die Dreharbeiten. Sie beobachten fünf Politiker, die sich Hoffnungen auf ein Direktmandat im Wahlkreis 1 in der Westprignitz machen. Wohnen Sie selbst auch dort? Nein, es ist der benachbarte Wahlkreis. Ich wäre sonst zu nah an meiner Scholle und da trifft man auf zu viele Eitelkeiten und kann schnell mal Gefühle verletzen. Wie ist es Ihnen gelungen, auch von der AfD eine Dreherlaubnis zu bekommen? Die Partei schließt doch gerne sogar Journalisten aus. Ich habe mich vor einem Jahr vorgestellt und erklärt, was ich vorhabe. Die AfD hat sich erstaunlicherweise von Anfang an freundlich und offen gezeigt. Dabei produziere ich ja für den Sender, den sie eigentlich abschaffen wollen. Das war immer ein kleiner Witz: Vor der Abschaffung senden wir noch diesen Film. Ich fand es sehr bemerkenswert, dass sie uns alle Zugänge gewährt haben. Eine Art Vertrauen war da. Ich weiß gar nicht genau, warum. Was hat Sie bei den Dreharbeiten am meisten überrascht? Mich hat verwundert, wie wenig Fragen die Menschen haben und wie schweigsam sie sind. Das hätte ich natürlich ahnen können, weil es bereits in Andreas Dresens Filmen über den Kandidaten Wichmann von der CDU zu sehen war. Ich habe die Wähler über ein halbes Jahr lang gedreht: Da kam wirklich nicht viel, übrigens auch nicht von den Kandidaten. Die wissen, was geht und versuchen dann auch nicht mehr. Es hat sich kaum eine große Diskussion an einem Wahlstand entbrannt. Wenn so der Wahlkampf aussieht, der darüber entscheidet, wen die Leute wählen, dann finde ich das ein wenig ernüchternd. Täuscht der Eindruck oder sind die Leute vor allem an Kugelschreibern interessiert, die sie am Wahlstand bekommen? So drastisch würde ich das nicht sagen. Es geht auch um Flaschenöffner. Nein, ich glaube, die persönliche Ansprache ist für die Menschen schon wichtig. Es geht aber nicht um inhaltliche Fragen, womöglich auch, weil die Inhalte aller Parteien eine gewisse Austauschbarkeit haben. Alle haben Schnittpunkte. Warum wählen die Leute AfD aus Ihrer Sicht? Die Leute sehen vor allem ihre eigenen Probleme und haben das Gemeinwohl nicht im Blick. Wir leben in Zeiten persönlicher Maximalforderungen. Das findet man sogar bei der Fridays for Future Bewegung, die nur die sofortige Weltrettung verlangt und alles tatsächlich existierende irgendwie ausblendet. Menschen, die neben Windparks leben, sehen nur noch Windräder. Und wählen die Partei, die verspricht sie zu entfernen. Früher, sagte man mir, wurden auf dem Land die Menschen gewählt, die man kannte. Bei den Kommunalwahlen im Mai kandidierten teilweise völlig unbekannte Leute, und die wurden wie durch ein Wunder gewählt, nur weil hinter ihrem Namen AfD stand. Das war unerklärlich - und neu. Freunde erzählten von ihrem Nachbarn, der AfD wählt, weil „doch hier mal irgendetwas passieren muss“. Ich habe den Verdacht, es gibt nicht einen inhaltlichen Grund, dass jemand diese Partei wählt. Können Sie nachvollziehen, dass Menschen verunsichert und frustriert sind? Ich habe verstanden, dass die Leute enttäuscht sind und warum. Sie haben das Vertrauen in die Volksparteien verloren, weil sie nicht darüber informiert werden, dass ihre Straße umgebaut wird oder ihnen eine Mülldeponie vor die Nase gesetzt wird. Da entsteht der Eindruck, dass sich niemand um sie kümmert und dass sie reingelegt werden. Hier werden Verträge hinter ihrem Rücken gemacht. Das ist ein Grund, warum die Leute Protest wählen. Aber warum die AfD? Das weiß ich nicht. Sie könnte ja auch eine andere Partei wählen, die Freien Wähler oder die Bauernpartei. Aber da gibt es wohl die große Hoffnung, dass die großmäuligere AfD etwas verändert. Ihr Film heißt „Die Unerhörten“. Ein mehrdeutiger Titel. Er ist mehrdeutig, wie das Thema. Unerhört sind die, die kein Gehör finden. Unerhört sind die, die unverschämt sind. Unerhört sind die, die sich kein Gehör verschaffen können. Die Menschen, die wir kennenlernen, sind auch nicht eindeutig. Wir sind alle komplex und tragen Widersprüche in uns. Herr Boué, was wünschen Sie sich für die Wahl am Sonntag? Einen langweiligen Tatort und eine hochspannende Wahl–mit Happy End. Jean Boué gehört zu den Gästen, die das Potsdamer Filmmuseum am 29. August zu dem Thementag „Für Demokratie, Weltoffenheit und Toleranz – Brandenburg wählt!“ eingeladen hat. Um 15 Uhr stellt er seinen Film „Die Unerhörten“ vor. Zuvor zu sehen sind „RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit“ von Betsy West und Julie Cohen um 11 Uhr, „Free Speech Fear Free“ von Tarquin Ramsay um 13 Uhr. Nach diversen Statements von Filmschaffenden und Politikern steht um 17 Uhr „Styx“ von Wolfgang Fischer und um 19.15 Uhr „Vor der Morgenröte“ von Maria Schrader auf dem Programm. Der Eintritt ist frei. Von Claudia Palma

Dokumentarfilm - Politiker im Wahlkampf: Jean Boués Film „Die Unerhörten“