„Wonderlands“ – ein Bildband mit Fantasy-Geschichten

Klimawandel, Corona-Krise. Mehr als nur einmal wünschte sich mancher in diesem Jahr eine andere Welt. Zum Glück existiert die Literatur. Solange es Schriftsteller gibt, erträumten die sich ihre eigenen Welten. Sie schrieben sich die Realität schön, oder zeichneten düstere Dystopien, um vor Entwicklungen der Gegenwart zu warnen. Denn eines ist doch klar: eine bessere Welt wollten sie alle, sonst wären sie keine Schriftsteller. In 100 Essays liefert der von Laura Miller herausgegebene Band „Wonderlands“ einen Überblick über die fantastischen Welten von Lewis Carroll, J. K. Rowling, Stephen King und J. R. R. Tolkien. Ein Führer durch die imaginären Reiche der Literatur, der die frühesten Heldenepen ebenso in den Blick nimmt wie die neuesten Roman-Schöpfungen der Gegenwart. Die Zeitreise beginnt mit Homers „Odyssee“: Eine Zeitreise durch fast 3000 Jahre. Beginnend mit Homers „Odyssee“ (ca. 725-675 vor Christus), dem zweitältesten Werk der westlichen Literatur, bis hin zu Salman Rushdies „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“ aus dem Jahr 2015. Alles ist aufwändig bebildert mit historischen Buchcovern, Fotografien, Faksimiles und Darstellungen der Bildenden Kunst. Eine Geschichte der fantastischen Literatur. Mitunter entsteht der Eindruck, jeder Roman, egal welchen Inhaltes, lasse sich der fantastischen Literatur zurechnen. Aber vielleicht ist das ja so, wenn man es nicht zu eng nimmt. Eines der einflussreichsten Werke ist das 1516 erschienene „Utopia“ von Thomas Morus, das einer ganzen Literaturgattung den Namen gab. Die kommunistische Gesellschaft von Thomas Morus: Morus entwirft darin eine auf einer Insel lebende Idealgesellschaft und plädierte für die Abschaffung von Privateigentum ähnlich wie später der Kommunismus. Alle Menschen leben in gleichen Häusern und müssen alle zehn Jahre umziehen, damit gar nicht erst das Gefühl von Besitztum aufkommt. Alle sind gleich gekleidet und arbeiten nicht länger als sechs Stunden am Tag. Vieles in dem Buch mag uns heute totalitär oder autoritär erscheinen. Trotzdem, oder gerade deswegen, beschäftigte es viele Generationen von Schriftstellern. Weder George Orwells „1984“ noch Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ oder Tommasco Campanellas „Sonnenstadt“ wären ohne Thomas Morus vorstellbar. Auf zwei, höchstens drei Seiten geben die Essays einen kurzen Überblick über Werk und Autor. Manchmal wünscht man sich mehr Tiefe. Mehr Atmosphäre. Aber das hätte wohl den Rahmen des Buches gesprengt, in dem das ausschließlich von Frauen bewohnte „Ihrland“ (1915) der amerikanischen Frauenrechtlerin Charlotte Perkins Gilman ebenso zu entdecken ist wie die Abenteuer der Eukalyptusbabys, die die Australierin Cecilia May Gibbs in „Tales Of Snugglepot And Cuddlepie: Their Adventures Wonderful“ (1918) erzählt. „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins sind auch dabei: Natürlich dürfen Suzanne Collins‘ „Die Tribute von Panem“ (2008) ebenso wenig fehlen wie George R. R. Martins „Game Of Thrones: Der Winter naht“ (1996). Als Goldenes Zeitalter der Fantasy-Literatur sieht Miller die ersten 60 Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen viele Autoren nach Antworten auf die durch Industrialisierung und Säkularisierung entstandene Zerstörung von verwurzelten Lebensweisen suchten. Auch heute warten große Herausforderungen auf die Menschheit. Wieder erblühen Fantasy-Epen. Die Sehnsucht nach anderen Welten ist ungebrochen oder gar größer denn je. Laura Miller (Hg.): Wonderlands. Die fantastischen Welten von Lewis Carroll, J.K. Rowling, Stephen King, J.R.R. Tolkien, Haruki Murakami u.v.a., Wbg Theiss Verlag, 320 Seiten, 28 Euro. Von Welf Grombacher