Zigarettenschmuggel-Prozess: Richter hält Wutrede im Gerichtssaal
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Der Vorsitzende Richter am Landgericht Potsdam, Andreas Dielitz.
© Quelle: dpa/Ralf Hirschberger
Potsdam. In der Debatte um überlange Prozesse, entlassene Untersuchungshäftlinge und hoch belastete Gerichte ist jetzt einem der dienstältesten Strafrichter am Landgericht Potsdam der Kragen geplatzt. Andreas Dielitz, Vorsitzender Richter der Fünften Großen Strafkammer, sagte: „Uns steht das Wasser bis oben hin, auch wenn wir nach Zahlen des Ministeriums und des Oberlandesgerichts auskömmlich ausgestattet sind.“
76 Tage Verhandlungsmarathon
Die offizielle Personalberechnung anhand eingehender Fälle sei das eine, die Prozessrealität „etwas ganz anderes“, so Dielitz während einer Verhandlung gegen Zigarettenschmuggler am Montag – einem Verfahren, das mit 76 Verhandlungstagen zu den Mammutprozessen der märkischen Justizgeschichte gehört.
Jurist Dielitz hat viele prominente Groß-Verfahren geleitet, etwa den Prozess gegen den jüngst verstorbenen Hotelier Axel Hilpert wegen Fördermittelbetrugs beim Bau des „Resorts Schwielowsee“. Dielitz leitete auch das Verfahren gegen die Pillenbande, die gefälschte Potenzmittel verkauft hatte.
„Keine Lust“ mehr auf Strafverfahren
Der Zigaretten-Prozess ist das letzte Strafverfahren, das Dielitz leitet, denn er wechselt demnächst in eine Zivilrechts-Kammer. Er habe schlicht „keine Lust mehr“, Strafrichter zu sein im Angesicht der kompliziert zu organisierenden Verfahren, sagt Dielitz. „Ich möchte auch mal pünktlich in den Urlaub gehen.“
Er und seine Kollegen seien „nicht faul“, nähmen regelmäßig Akten mit nach Hause, arbeiteten bis in die Nacht und an vielen Wochenenden. Dennoch komme es immer wieder zu Verzögerungen – gerade in den umfangreichen Prozessen in Sachen Wirtschaftskriminalität.
Internationale Amtshilfe dauert lang
Ein internationales Amtshilfeersuchen etwa brauche oft Monate, sagte Dielitz. So hatten die mutmaßlichen Schmuggler aus dem aktuellen Prozess Verbindungen in die Ukraine, nach Albanien, in die Türkei, nach Moldawien, Serbien, Rumänien. Außerdem gab es Querverbindungen in Steuerparadiese wie Belize, Panama und die Virgin-Islands. Die Hauptakten umfassen mehr als 15.000 Seiten.
Darüber hinaus sei es nur schwer möglich, ehrenamtliche Richter zu finden, sagt Dielitz. Die Schöffen bekämen auf die Dauer Ärger mit ihren Arbeitgebern, wenn sie ständig der Arbeit fern blieben.
Schmuggler-Prozess platzte viermal
Die 5. Strafkammer sollte im aktuellen Fall schon 2015 gegen eine sechsköpfige deutsch-russische Bande verhandeln. Die soll durch Handel mit unversteuerten Zigaretten dem Fiskus einen Schaden von 58 Millionen Euro allein in Deutschland verursacht haben. In Italien, wo die Zigaretten hergestellt wurden, beziffern die Behörden den Schaden sogar auf eine halbe Milliarde Euro. Ein illegales Zigarettenlager hatte die Bande in Paulinenaue im Havelland eingerichtet – deshalb sind Brandenburger Behörden zuständig.
Das Verfahren platzte aber in Potsdam viermal, unter anderem wegen der Erkrankung von Richtern – darunter auch Dielitz. Wegen eines Unfalls lag er lange Zeit im Krankenhaus.
Auf Krücken zur Arbeit
Er habe sich in Krücken wieder zur Arbeit geschleppt, sagte Dielitz, habe nach dem „Hamburger Modell“ wieder peu à peu die Arbeit aufgenommen. Dabei sei ihm ein Fehler bei der Besetzung eines Schöffen passiert, woraufhin der Prozess neu angesetzt werden musste. Dielitz dazu: „Hätte ich lieber krank zu Hause bleiben sollen?“
Landgerichte in der Größenordnung wie Potsdam könnten nicht bei allen Verfahren so genannte „Ergänzungsrichter“ hinzuziehen, die im Fall einer Erkrankung eines Kollegen im Stoff stünden und einspringen könnten, sagte Dielitz. „Das ist bei Gerichten dieser Größe schier unmöglich“, so der Richter. „Wir haben die Personaldichte nicht.“
Kritik an langsamer Justiz
Hintergrund der unverblümten Äußerungen des Richters sind mehrere Gerichtsverfahren im Land Brandenburg, in denen Untersuchungshäftlinge wegen zeitlicher Verzögerungen freigelassen werden mussten. Das betrifft den Nauener Ex-NPD-Politiker und mutmaßliche Turnhallen-Brandstifter Maik Schneider ebenso wie einen erstinstanzlich verurteilten Mörder aus Stahnsdorf, der seine Frau bei einem mutwillig herbeigeführten Autounfall getötet haben soll.
Im Zigarettenschmuggler-Prozess mussten die Angeklagten ebenfalls auf freien Fuß gesetzt werden – so hatte . Die beiden Hauptverdächtigen hatten etwa 18 Monate hinter Gittern verbracht.
Als Kritik am Ministerium will Dielitz seine Äußerungen aber nicht verstanden wissen, sagte er. Er wolle aber darauf hinweisen, dass Strafprozesse anders liefen, als öffentlich oft dargestellt werde.
Bestochene Zöllner
Europaweit gilt das Verfahren gegen die Zigarettenbande als eines der größten seiner Art. In mehreren Ländern flogen Zöllner auf, die von der Bande bestochen worden sind. Italien ermittelte mit den Möglichkeiten der Anti-Mafia-Gesetzgebung und beschlagnahmte Autos, Immobilien, Aktien und Geld. Ein echter Mafia-Bezug sei aber nicht zu erkennen, heißt es aus den Ermittlungsbehörden. Die komplette Zigarettenfabrik wurde beschlagnahmt und arbeitet derzeit unter staatlicher Zwangsverwaltung.
Der Schmuggel fand zwischen 2011 und 2014 statt. Die Gewinnmarge ist riesig, da jede Zigarette in Deutschland mit 28 Cent versteuert, in Großbritannien und Skandinavien teils noch höher.
Internationale Bande vor Gericht
Deutsche und italienische Fahnder bildeten eine Ermittlergruppe, das Zollfahndungsamt in Frankfurt (Oder) und das Hauptzollamt führten die Ermittlungen zusammen mit der Staatsanwaltschaft. Die Fahnder loben zwar die Zusammenarbeit mit den Italienern, doch habe das Verfahren die Schwächen der Behörden im Angesicht einer internationalen kriminellen Unternehmung offen gelegt. „Wir brauchen einen europäischen Staatsanwalt, der in allen Ländern Zugriffsrechte hat“, sagt ein Fahnder. Rechtshilfeersuchen würden bisweilen komplett ignoriert.
Ein Urteil wird für Freitag erwartet. Die Staatsanwaltschaft hat für die beiden Hauptverdächtigen Haftstrafen von fünf Jahren gefordert. Die anderen Mitangeklagten sind Lastwagenfahrer. Sie sollen Bewährungsstrafen erhalten.
Von Ulrich Wangemann