Kinderärzte zum neuen Infektionsschutzgesetz: „Politische Ignoranz einer ganzen Generation“
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Hat der Mundschutz an den Schulen bald ausgedient? Bei dieser Frage scheiden sich die Geister.
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Herr Dr. Rodeck, Sie kritisieren den Entwurf zum neuen Infektionsschutzgesetz scharf. Warum?
Weil Kinder und Jugendliche damit vergessen werden. Im neuen Infektionsschutzgesetz gelten für einen vollständigen Impfschutz drei Impfungen oder zwei Impfungen und ein positiver Antikörpertest. Dabei wird völlig vergessen, dass wir für kleine Kinder gar keinen Impfstoff haben. Kinder zwischen fünf und elf Jahren können wir impfen, aber laut Stiko gelten die Kinder nach zwei Dosen als vollständig geimpft. Hier wurde wieder nur an Erwachsene gedacht und eine riesige Bevölkerungsgruppe negiert.
Was glauben Sie, warum?
Das ist vermutlich keine Absicht. Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen wird einfach nicht gesehen. Obwohl genau das der Rat der Expertinnen und Experten der Bundesregierung in seiner siebten Stellungnahme gefordert hat. Das ist eine politische Ignoranz einer ganzen Generation.
Kinder und Jugendliche haben keine Lobby
Aber als DGKJ sind Sie doch im Ausschuss gehört worden?
Wir sind insofern gehört worden, als dass unsere Stellungnahme rechtzeitig schriftlich eingegangen ist. Wir sind aber nicht weiter dazu befragt worden. Und unsere Eingaben sind überhaupt nicht berücksichtigt worden.
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Burkhard Rodeck ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter der Kinder-Gastroenterologie im Christlichen Kinderhospital Osnabrück.
© Quelle: Privat
In der Öffentlichkeit wurde die Belastung für Kinder und Jugendliche ja durchaus diskutiert. Überrascht Sie die von Ihnen beschriebene Ignoranz jetzt?
Grundsätzlich nicht. Wir erleben immer wieder, dass das eine Gruppe ist, die keine Lobby hat. Außer bei Fridays for Future vielleicht haben Kinder und Jugendliche kaum eine laute Stimme. Und Eltern sind meist noch so jung, dass sie politisch nicht organisiert sind. Auch ihre Stimmen werden also nicht gehört. Kinder und Jugendliche brauchen eine Öffentlichkeit. Eigentlich müsste nach UN-Konventionen jedes Gesetz dahingehend geprüft werden, ob es Kinder und Jugendliche diskriminiert. Mit den Kinderrechten im Grundgesetz gäbe es genau diese Verpflichtung.
Zurück zur Normalität in den Schulen
Was brauchen Kinder und Jugendliche jetzt?
Sie brauchen eine differenzierte Betrachtung ihrer Situation. Nicht die Erwachsenensicht. Darum muss der Umgang mit dieser Gruppe ein anderer sein. Wir brauchen im Gesetz zum Beispiel Ausnahmeregelungen, die für Kinder und auch für die Zwölf- bis 17-Jährigen gelten. Und wir brauchen eine Sonderregelung für die Kinder, die nach der ersten oder zweiten Impfung eine Impfkomplikation erlitten haben.
Grundsätzlich müssen wir uns fragen: Was muten wir ihnen zu? Was müssen wir ihnen zumuten? Die primäre Erkrankung Covid-19 spielt trotz Long Covid und Pims für Kinder weniger eine Rolle. Für sie sind die sekundären Faktoren entscheidender, also die Folgen der Maßnahmen. Das sehen wir unter anderem an einer Zunahme an Angststörungen, Depressionen und Suizidversuchen.
Eine zentrale Rolle spielen in der Pandemie die Schulen. Sie sind zumindest geöffnet. Sind damit die Probleme gelöst?
Wir haben eine Impfung, die vor schweren Verläufen schützt. Sie schützt aber nicht vor Ansteckung. Die Infektionswelle läuft also durch die Gesellschaft durch. Darum brauchen wir einen Strategiewechsel, der aktuell sowieso schon passiert. Es geht nicht mehr darum, jede Infektion um jeden Preis zu verhindern. Wir müssen lernen, mit dieser Infektion klarzukommen. Und bei einer Influenza haben wir diese Diskussionen auch nicht.
Gerade für Kinder und Jugendliche sollte es jetzt zurück zur Normalität gehen?
Angesichts der Hochinfektionsphase empfehlen wir noch Masken an weiterführenden Schulen und an Grundschulen auf freiwilliger Basis. Aber das anlasslose Testen zum Beispiel verbraucht wahnsinnige Ressourcen und ist einfach nicht sinnvoll. Stattdessen sollten wir nur noch dann testen, wenn es einen Grund dazu gibt. Die Krankheitslast allein an positiven Test-Inzidenzen zu messen ist nicht mehr sinnvoll. Die Belastung des Gesundheitssystems durch Covid-19 ist ein aktuell viel wichtigerer Parameter. Und diese ist und war in der Kinder- und Jugendmedizin nicht besorgniserregend. Bei Erwachsenen sieht das etwas anders aus. In Abhängigkeit davon können wir wieder zur Normalität zurückkehren.