Mediziner ziehen Notbremse

Wenn Patienten im Krankenhaus nicht mehr sicher sind

Krankenwagen stehen vor dem Royal London Hospital vor einem Arbeitskampf der Gewerkschaften Unison, GMB und Unite. Streiks im britischen Gesundheitsdienst NHS haben große Sorgen ausgelöst. Der NHS ist seit Jahren chronisch unterfinanziert, personell ausgedünnt und seit der Pandemie völlig überlastet.

Krankenwagen stehen vor dem Royal London Hospital vor einem Arbeitskampf der Gewerkschaften Unison, GMB und Unite. Streiks im britischen Gesundheitsdienst NHS haben große Sorgen ausgelöst. Der NHS ist seit Jahren chronisch unterfinanziert, personell ausgedünnt und seit der Pandemie völlig überlastet.

Die verwackelten Bilder zeigen signalgelbe Rettungswagen in nächtlicher Kulisse. Sie stehen in einer langen Schlange rechts und links einer Straße, die zum Krankenhaus in Peterborough führt, einer Stadt im Osten Englands. „Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie viele Wagen es genau waren“, sagt Hannah und blickt dabei auf den Bildschirm ihres Smartphones. Ihr Vater, ein Diabetiker, lag nach einem Sturz fast zwei Tage in seiner Wohnung, bevor er gefunden wurde, berichtet die Frau, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, gegenüber Journalisten.

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Durch die Polizei zur Hilfe gerufene Rettungskräfte transportierten ihn vergangene Woche zu einer Klinik. Dort harrte er aus, rund 36 Stunden, erst im Rettungswagen, dann im Gang. Hannah drehte ein Video, um das Unfassbare zu dokumentieren. „Da war Blut auf dem Fußboden, in den Korridoren lagen Verletzte. Ich konnte es einfach nicht glauben.“

Anhaltende Krise des Gesundheitsdienstes NHS eskaliert

Geschichten dieser Art werden in Großbritannien aktuell täglich berichtet. Die seit Jahren anhaltende Krise des nationalen Gesundheitsdienstes NHS eskaliert nun vollends. Ärztinnen und Ärzte, Pfleger, Krankenhausmanager und Rettungssanitäterinnen sind sich einig: So schlimm war es noch nie.

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Um auf die Lage aufmerksam zu machen und mehr Lohn einzufordern, haben Gewerkschaften zu Streiks aufgerufen. Seit Dezember gehen Pflegekräfte regelmäßig auf die Straße – aller Hürden zum Trotz. Denn das Streikrecht in Großbritannien gilt schon jetzt als besonders restriktiv. Während auch andere öffentliche Branchen wie Lehrerinnen und Lehrer, Postbeamte, Busfahrer und Grenzschutzbeamte protestieren, erregt die Arbeitsniederlegung des NHS-Personals die Gemüter besonders. Schließlich geht es dabei um jene Institution, die den Britinnen und Briten so heilig ist wie manchen Hindus die Kuh.

Es fällt mir schwer, das so zu sagen. Aber unter den aktuellen Umständen sind Patienten in den öffentlichen Krankenhäusern nicht mehr sicher.

Chelsea, Krankenschwester aus London

„Es fällt mir schwer, das so zu sagen. Aber unter den aktuellen Umständen sind Patienten in den öffentlichen Krankenhäusern nicht mehr sicher“, fasst Chelsea, eine 22-jährige Krankenschwester aus London, die Lage gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) zusammen. „Wir wollen den Menschen helfen. Wir geben unser Bestes. Aber wir werden ihnen nicht mehr gerecht.“

Die junge Frau arbeitet dort, wo die Lage aktuell besonders brisant ist: in einer Notaufnahme. „Ich habe in den vergangenen Wochen ungewöhnlich viele Menschen auf unserer Station sterben sehen“, sagt sie. Sie beobachte täglich, wie Patientinnen und Patienten auf den Gängen warten müssen. Oft seien es die Rettungskräfte, die dann bei ihnen bleiben, weil Betten und Personal fehlen. Und das, obwohl sie eigentlich längst zum nächsten Einsatz müssten. Zeitweise seien die Patienten auch völlig auf sich allein gestellt. Die Zustände sind beängstigend, auch weil der NHS gerade bei Notfällen als besonders gut galt. „Wir eilen von einem zum nächsten, haben kaum Zeit.“

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Verzögerungen mit tödlichen Folgen

Laut Schätzungen des Berufsverbandes „Royal College of Emergency Medicine“ sterben in den Notaufnahmen aktuell jede Woche zwischen 300 und 500 Menschen an den Folgen von Verzögerungen. Jetzt im Winter ist die Lage aufgrund von Infektionskrankheiten noch angespannter. Die Umfrage „British Social Attitudes“ ergab, dass die Zufriedenheit der Öffentlichkeit mit dem Gesundheitsdienst zwischen 2020 und 2021 von 53 auf 36 Prozent gesunken ist. Das ist der niedrigste Stand seit 1997.

Weil die Patienten verzweifelt sind, werden wir oft beleidigt.

Aldwin, Krankenpfleger und Teamleiter in einem Londoner Krankenhaus

Im Gespräch mit Briten und Britinnen verfestigt sich der Eindruck, dass die Zustimmung seither weiter gefallen ist. „Weil die Patienten verzweifelt sind, werden wir oft beleidigt“, berichtet Aldwin, ein 44-jähriger Krankenpfleger und Teamleiter in einem Londoner Krankenhaus.

„Der NHS ist nicht mehr, was er einmal war“, sagt Chelsea. „Wer im öffentlichen Gesundheitssystem arbeitet, macht das nicht des Geldes wegen.“ Auch wenn es in der aktuellen Diskussion natürlich auch um höhere Löhne geht. „Die meisten wählen diesen Beruf, weil sie sich den Menschen und der Medizin widmen wollen.“ Vor allem junge Pflegerinnen und Pfleger fühlten sich desillusioniert. „Die Zustände sind infolge der mangelnden Finanzierung sehr traurig.“

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Wie konnte es so weit kommen?

Doch wie konnte es so weit kommen? Für die Zuspitzung der Lage sind die Sparmaßnahmen der Tories seit 2010 verantwortlich, betont Stuart Hoddinott von der Denkfabrik „Institute for Government“ im Gespräch mit dem RND. Der Gesundheitsdienst wird, anders als in Deutschland, nicht über eine Versicherung, sondern über Steuern finanziert.

Die konservative Regierung habe in den vergangenen zwölf Jahren jedoch nicht nur an den Löhnen gespart, es sei insgesamt deutlich weniger investiert worden. Es gibt weniger Betten und weniger Personal. Krankenhäuser wurden nicht restauriert, IT-Systeme nicht aktualisiert, technisches Equipment nicht erneuert. Geld wurde nur dann in die Hand genommen, wenn es schon zu spät war. Großbritannien besitzt nur 8,8 Computertomografen pro eine Million Einwohner und Einwohnerinnen. In Deutschland sind es im Verhältnis etwa viermal so viele. Das System steckt schon lange in der Krise. „Als die Pandemie dann den NHS 2019 traf, war die Resilienz bereits sehr, sehr gering“, sagt der Experte.

Ärzte und Krankenpflege haben große Opfer erbracht

In dieser Zeit haben Ärzte, Ärztinnen und Krankenpflege jedoch große Opfer erbracht, erzählt Aldwin dem RND. „Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, kamen nur zum Schlafen nach Hause“, auch am Wochenende. „Wir riskierten unser Leben und unsere Gesundheit. Pfleger starben an Covid.“ Die Öffentlichkeit wusste dies zu schätzen. Die Mehrheit der Britinnen und Briten unterstützt den aktuellen Streik. An der Haltung der Regierung änderte sich in der Wahrnehmung der medizinischen Kräfte jedoch nichts. Im Gegenteil: Während Ex-Premierminister Boris Johnson die Sozialabgaben im Jahr 2021 noch erhöhen wollte, um mehr Geld in den NHS pumpen zu können, wurden diese Pläne im September vergangenen Jahres durch seine Nachfolgerin Liz Truss über den Haufen geworfen.

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Rishi Sunak, der aktuelle Regierungschef, hält an dem Beschluss fest, bis heute. Zwar wurde dem Personal eine Lohnerhöhung von rund 2 Prozent zugesagt. Das ist den Gewerkschaften angesichts von einer Inflation von rund 11 Prozent im Vergleich zum Vorjahr aber deutlich zu wenig. Auch der Brexit ist ein Problem. Pflegerinnen und Pfleger gingen zurück in die EU, zu wenige ausländische Kräfte kamen nach.

„Die Moral innerhalb des NHS ist massiv gesungen“

„Die Moral innerhalb des NHS ist massiv gesungen“, erklärt Hoddinott. Viele wechselten die Branche, weil sie in deutlich weniger stressigen Jobs mehr Geld auf ihrem Konto haben, beispielsweise in der Gastronomie. Ein Krankenpfleger verdient im NHS umgerechnet rund 2000 Euro netto pro Monat. „Das ist zu wenig, erst recht, wenn man in London lebt“, berichtet Aldwin. Nach Jahren der Unterfinanzierung sind das System und die Menschen, die darin arbeiten, am Anschlag.

Damit sich dies ändert, postierten sich am vergangenen Mittwoch Angestellte einer Notrufzentrale im kalten Wind vor einem grauen Verwaltungsgebäude im Stadtbezirk Newham, im Nordosten Londons. Es herrschen Frust und beinahe ein Gefühl von Hilflosigkeit. Mit in der Runde steht Jamie Briers, der regionale Organisator des Streiks. „Wir wollen unsere Mitglieder schützen und sicherstellen, dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Es geht aber auch darum, den NHS für alle zu verbessern.“ Es gebe rund 30.000 offene Stellen in ganz Großbritannien. Höhere Löhne würden den NHS als Arbeitgeber wieder attraktiver machen, ist er überzeugt. „Damit wären dann nicht alle Probleme gelöst. Aber irgendwo muss man ja anfangen.“

Wir haben häufig Menschen am Telefon, deren Angehöriger stirbt, während sie auf einen Krankenwagen warten.

Maruf Ahad, Mitarbeiter einer britischen Notrufzentrale

Zu den Demonstranten gehören der 20-jährige Maruf Ahad und die 27-jährige Abbie Smith, die in der Notrufzentrale arbeiten. „Wir haben häufig Menschen am Telefon, deren Angehöriger stirbt, während sie auf einen Krankenwagen warten“, sagt Ahad. „Das ist auch für uns schrecklich, vor allem wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt.“ Die Wartezeit auf den Rettungsdienst beträgt aktuell durchschnittlich eineinhalb Stunden. „Viele Leute sagen, wir sollen nicht streiken, weil Menschen sterben, aber die Menschen sterben bereits jetzt“, betont die junge Frau gegenüber dem RND.

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Erschwert würde die Lage dadurch, dass sich viele Britinnen und Briten an die Notrufzentrale wenden, wenn eigentlich ihr Hausarzt zuständig ist. „Die Probleme im NHS verstärken einander“, bestätigt Hoddinott vom „Institute for Government“. Weil immer weniger Hausärztinnen und ‑ärzte im NHS arbeiten wollen, müssen die Menschen häufiger ins Krankenhaus. Hinzu kommen Engpässe in der Pflege. Ältere können deshalb nicht aus der Klinik entlassen werden, was wiederum die Zahl der verfügbaren Betten reduziert. Ein Teufelskreis. „Die Krise ist jedoch lösbar, wenn der politische Wille da ist“, betont Hoddinott. Dafür benötige man jedoch langfristigere Pläne. Die Regierung müsse mehr in Menschen, Gebäude und Technologien investieren, kommentieren britische Experten die Lage.

Labour-Partei wirft Regierung vor, Zustände zu leugnen

Die oppositionelle Labour-Partei wirft der konservativen Regierung unter Sunak indes vor, die Zustände zu leugnen. Der NHS stecke in der „größten Krise seiner Geschichte“, sagte der Schattenminister im Bereich Gesundheit, Wes Streeting, und forderte die Minister dazu auf, sich die „Berichte hinter den Zahlen“ anzuhören. Der Premierminister betonte, dass er bereit sei, den NHS mit mehr Mitteln zu unterstützen. Die geforderten Gehaltserhöhungen seien jedoch „unbezahlbar“. Ein Gesetzesentwurf sieht vor, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Zukunft während Streiks weiter arbeiten müssen, um die Versorgung zu gewährleisten. Weigern sich diese, können sie entlassen werden. Die Gewerkschaften kündigten indes weitere Arbeitsniederlegungen an.

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